Akasha

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.Akasha-Chronik: hellseherisch wahrgenommenes "Weltengedächtnis", begegnet v.a. in Theosophie und Anthroposophie.

1. Der Begriff "Akasha" in der Religionsgeschichte

Die Bedeutung des Begriffs "A." (auch "Akascha", "Akasa" u.ä. geschrieben; Sanskrit/Pali: akasa = "Raum") ist in der Geschichte der >Religionen und des Okkultismus keineswegs einheitlich. Der Buddhismus zählt A. als "Raumelement" zur Gruppe der sechs Elemente: festes, flüssiges, erhitzendes, luftiges Element, Raumelement, Bewusstseinselement. Der >Brahmanismus kennt fünf Elemente. Dabei ist A. das (direkt aus dem Brahman-Atman kommende) Urelement, aus dem seinerseits die anderen Elemente und die Lebewesen hervorgehen: "Aus dem Atman kam der Raum (akasa), aus dem Raum der Wind, aus dem Wind das Feuer, aus dem Feuer das Wasser, aus dem Wasser die Erde, aus der Erde die Pflanzen, aus den Pflanzen Nahrung (anna), aus der Nahrung Samen, aus dem Samen der Mensch (purusa)" (Taittiriya Upanishad). "Es ist das A., aus welchem alle Kreaturen hervorgingen und wohin sie zurückkehrten: das A. ist älter als sie alle, das A. ist das allerletzte Ende" (Khand. Upanishad). Die abendländisch-esoterische Tradition des 19. Jahrhunderts erweitert diese Bedeutung von "A." als "Raumelement" um die Dimension der Zeit. Bei H. P. Blavatsky (1831-1891) und ihrer Theosophie wird A. zur "A.-Chronik", zu einem "raumätherischen Weltgedächtnis" (auch als "Gedächtnis Gottes" bezeichnet), in dem alle Ereignisse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gespeichert sind. Durch Hellsehen kann man angeblich Einblick in diese "Weltenchronik" bekommen. Was Blavatsky "A.-Chronik" nennt, hatte der französische Kabbalist und Okkultist Eliphas Levi (Pseudonym des Abbé Alphonse Louis Constant; 1810-1875) schon vor ihr "entdeckt" und als "Astrallicht" bezeichnet. Nach Levis Ansicht "kann der Magier im Astrallicht auch die Gestalten derer hervorbringen, die unsere physische Welt bereits verlassen haben ... Wir rufen die Erinnerungen wach, die sie [die Geister der Verstorbenen; d. Verf.] im Astrallicht hinterlassen haben, welches das gemeinsame Sammelbecken der universalen magnetischen Kraftäußerungen ist" (R.-H. Laars, Eliphas Levi, o.J., 115.127). Vor Levi wiederum hatte Paracelsus (1493-1541) vom "siderischen Licht" gesprochen: "Das A[strallicht] entspricht dem 'siderischen Licht' von Paracelsus." Gemeint ist "die unsichtbare Region, welche unseren Kosmos umgibt" und "die nur dem hellsichtigen Auge sichtbar ist". In ihm sind "alle Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und möglicherweise der Zukunft aufgezeichnet" (H.-E. Miers, Lexikon des Geheimwissens, 1986, 49.14). Eine ähnliche Vorstellung begegnet im 16. Jahrhundert in den kabbalistischen Schriften des M. A. Fano. Dieser spricht von einem "okkulten Äther ... der das Medium sei, durch das die Werke des Menschen bis zum Jüngsten Gericht aufbewahrt werden ... Das vom Talmud erwähnte 'Buch des Gedächtnisses', das vor Gott aufgeschlagen liegt, ist also in gewisser Weise eine solche ' Akascha-Chronik´" (G. Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 1986, 313). Ein Hinweis auf ein solches "Buch der Taten eines Menschen" findet sich tatsächlich an einigen biblischen Stellen (Jes 65,6; Mal 3,16: Dan 7,10; Apk 20,12), aber nie ist davon die Rede, dass ein Mensch hellseherisch in einem solchen Buch lesen könnte. Die Leistung von Blavatsky bestand in der Namensgebung und Ausschmückung des von Levi Übernommenen. Wie J.W. Hauer darstellt, fand "man" (d. h. die Theosophie) in Indien "den Namen für die Weltenchronik - die nebenbei bemerkt keine indische Idee ist - indem man sie mit dem indischen Namen des Weltäthers akasa verband. A.-Chronik hatte einen guten Klang" (J.-W. Hauer, Werden und Wesen der Anthroposophie, 1922, 91).

2. Die anthroposophische Auffassung von der A.-Chronik

R. Steiner übernahm die Definition der A.-Chronik, die Blavatsky ihr beigelegt hatte. Er sagt: "Alles, was in der sinnlich-physischen Welt geschieht, das hat ja sein Gegenbild in der geistigen Welt ... Nehmen wir an, es lässt der Geistesforscher den Blick zurückschweifen bis zu Karl dem Grossen oder bis in die römische Zeit oder in das griechische Altertum. Alles, was da geschehen ist, ist seinen geistigen Urbildern nach durch Spuren erhalten geblieben in der geistigen Welt und kann dort geschaut werden. Dieses Schauen ... nennt man das `Lesen in der A.-Chronik"' (Steiner-GA 112,28). Über den Vorgang des "Schauens" bzw. "Lesens in der A.-Chronik führt F. Rittelmeyer folgendes aus: "Eine Schlacht Cäsars wird also nicht wie von einem körperlichen Zuschauer von außen mit angeschaut, sondern von der Seele Cäsars aus miterlebt und von da in ihrem äußeren Verlauf rekonstruiert. Darum hat Rudolf Steiner, wenn er in eine geschichtliche Zeit eindringen wollte, seinen Ausgang meist genommen von irgendeinem Ereignis, das starke seelische Erlebnisse mit sich brachte. In bezug auf die christlichen Urgeschehnisse ging er zum Beispiel aus von dem Pfingsterlebnis und suchte von da aus in der Erinnerung der Jünger sich allmählich zurückzutasten, wobei er manchmal an Punkte kam, an denen er dann nicht oder lange nicht weiterkam" (Theologie und Anthroposophie, 1930, 115). Von dieser Vorgehensweise aus ergibt sich die Grundhaltung Steiners gegenüber der Bibel und anderen "Urkunden": "Und wenn der Geistesforscher ihnen die Ereignisse von Palästina oder die Beobachtungen des Zarathustra beschreibt, so beschreibt er nicht das, was in der Bibel, was in den Gathas steht, sondern er beschreibt, was er selbst in der A.-Chronik zu lesen versteht. Und dann wird eben nachgeforscht, ob das, was in der A.-Chronik entziffert worden ist, sich auch in den Urkunden, in unserm Falle in den Evangelien, findet" (112,28). Es ist also "gegenüber den Urkunden ein völlig freier Standpunkt, den die Geistesforschung einnimmt". Gerade darum aber wird die A.-Chronik nach Meinung Steiners "die eigentliche Richterin sein über das, was in den Urkunden vorkommt". Wenn dem Geistesforscher "in den Urkunden das gleiche entgegentritt", was er "in der A.-Chronik selbst zu verfolgen in der Lage" ist, dann ergibt sich für ihn, "dass diese Urkunden wahr sind, und ferner, dass sie jemand geschrieben haben muss, der auch in die A.-Chronik zu schauen vermag". "Viele der religiösen und anderen Urkunden des Menschengeschlechtes" will die Anthroposophie auf diese Weise wiedererobern (112,29f). So gelangt Steiner sogar zu der Aussage: "Wären durch irgendeine Katastrophe alle Evangelien verlorengegangen, so könnte trotzdem alles gesagt werden, was in der Geisteswissenschaft über den Christus gesagt wird" (117,106f).

3. Empirische Kritik der A.-Chronik

3.1. Die fehlende Nachprüfbarkeit der "Schauungen":

Der Religionswissenschaftler J. W. Hauer wies zu Lebzeiten Steiners (im Jahr 1922) auf folgende Beweismöglichkeit für die Richtigkeit der Schauungen aus der A.-Chronik hin: "Steiner soll sich irgend ein noch unaufgehelltes Gebiet der Geschichte wählen und dieses aus der Akaschachronik erforschen. Nur muss es ein solches sein, das auf der irdischen Ebene noch so viel Spuren hinterlassen hat, dass eine zweifelsfreie Nachprüfung auf dem Wege des gewöhnlichen Wahrnehmens und Denkens möglich ist. Eine Kommission von ihm selbst genannter Männer, die auf dem betreffenden Gebiete anerkannte Autoritäten sind, aber keine Anthroposophen sein dürfen, soll die Entscheidung fällen, ob seine Angaben stimmen oder nicht" (Werden und Wesen der Anthroposophie, 1922, 94). Steiner hat diese Beweismöglichkeit für seine Schauungen nicht ergriffen. Seine Weigerung versucht er folgendermaßen zu erklären: "Nun könnte jemand, der in solchen Dingen nicht bewandert ist, sagen: Wenn ihr uns erzählt von vergangenen Zeiten, so glauben wir, dass das alles nur Träumerei ist. Denn ihr kennt aus der Geschichte, was der Cäsar getan hat und glaubt dann durch eure mächtige Einbildung irgendwelche unsichtbaren A.-Bilder zu sehen. - Wer aber in diesen Dingen bewandert ist, der weiss, dass es umso leichter ist, in der A.-Chronik zu lesen, je weniger man dieselben Dinge aus der äußeren Geschichte kennt. Denn die äußere Geschichte und ihre Kenntnis ist geradezu eine Störung für den Seher" (112,29f.). Daher sei es dem, "der in diesen Sachen bewandert ist", am allerliebsten, wenn er "von längst vergangenen Entwickelungsstadien unserer Erde sprechen" könne. Darüber nämlich gebe es "keine Urkunden". Da berichtet die A.-Chronik "am allertreuesten, weil man am wenigsten dabei durch die äußere Geschichte gestört" werde (112,31). Als eigentliches Forschungsgebiet der A.-Chronik nennt Steiner also weit in der Vergangenheit (oder in der Zukunft) liegende Ereignisse, von denen keine Urkunden vorhanden sind. Damit zieht er sich auf ein entlegenes Territorium zurück, das durch äußere Daten weder widerlegt noch bewiesen werden kann. Doch selbst von diesen "Epochen", die als bevorzugtes Forschungsgebiet der A.-Chronik gelten, kann Steiner nur "Einzelbilder" vermitteln und eine "Schilderung in weniger scharfen Begriffen" geben (601,160). Seine Beobachtung der "Mondenentwickelung" etwa liefert "gar nicht etwas in so scharfen und bestimmten Umrissen, wie sie die Erdenwahrnehmungen zeigen". "Man hat es bei der Mondenepoche gar sehr mit wandelbaren, wechselnden Eindrücken, mit ,schwankenden, beweglichen Bildern zu tun und mit deren Übergängen" (ebd). Spricht Steiner bei weit entfernten Zeiträumen von "schwankenden, beweglichen Bildern", so wird er, je näher es an die auch "äusserlich" erfassbare - und überprüfbare! - Geschichte herangeht, um so zurückhaltender. Hier erwägt er sogar die Möglichkeit von "Störungen " - und damit von Irrtümern beim Schauen. Die Schuld dafür schreibt er der Ablenkung durch die Kenntnis der "äußeren Geschichte" zu, die somit geradezu in Konkurrenz zum Lesen der A.-Chronik tritt. Der Zunahme äußerer Daten entspricht die Abnahme der Möglichkeit zur hellseherischen Schau. Eine wissenschaftliche Nachprüfung der Mitteilungen aus der A.-Chronik ist somit nicht nur unmöglich, sondern widerspricht auch Steiners eigener Argumentation. Sie scheidet - ebenso wie eine systemimmanente Beurteilung aus. Was bleibt, ist die Möglichkeit, die Schauungen derer, die den Steinerschen - oder einen ihm entsprechenden - Erkenntnisweg gegangen sind, zu überprüfen - nicht anhand von äußeren Daten, sondern indem wir sie untereinander vergleichen.

3.2. Die Widersprüche der "Schauenden" untereinander:

Wie Steiner schreibt, will er in dieselbe "Geisterwelt" eindringen, die schon "der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph" gekannt haben (600,13). Er will an alte Einweihungswege anknüpfen. Steiner behauptet, dass die "Mitteilungen, die aus solchen geistigen Quellen stammen, nicht immer völlig", aber doch "im wesentlichen" übereinstimmen: "Die Eingeweihten schildern zu allen Zeiten und allen Orten im wesentlichen das Gleiche" (616,17f; Hi0). Trifft diese Aussage zu? Wir beschränken uns auf einen Vergleich zwischen theosophischer und anthroposophischer Schau. Beide Strömungen erheben den Anspruch, aus der A.-Chronik zu lesen, und doch finden sich zwischen ihren Schauungen auffallende Widersprüche - gerade im Wesentlichen, nämlich im Verständnis des Christus. Der Anthroposoph J. Hemleben drückt es so aus: "Die entscheidende Differenz, die in den Jahren 1912/13 zum endgültigen Bruch mit der indisch-angelsächsischen Theosophie führte, lag in Steiners Stellung zum Christentum. Bei aller, zeitweise radikalen Ablehnung der historischen Formen und Dogmen der Kirchen, hat er Zeit seines Lebens ... in Jesus Christus und dem `Ereignis von Golgatha' das zentrale Geschehen der Erd- und Menschheitsgeschichte gesehen. Diese Sicht war den Theosophen wie Helena Petrowna Blavatsky, Annie Besant und H. S. Olcott fremd" (J. Hemleben, Rudolf Steiner, 1983, 80). Die Theosophen sahen in einer "allgemeinen Synthese aller Religionen und ihrer gleichberechtigten Wahrheiten" ein "hohes Ideal". Für die "Einmaligkeit", die in der "Erscheinung des Gottessohnes Christus im Menschen Jesus von Nazareth auf Erden" gelegen ist, bestand bei ihnen "kein Verstehen und keine Anerkennung". Statt dessen proklamierte Annie Besant den Hinduknaben >Krishnamurti als die "Reinkarnation Christi" (ebd.). Hätten die "Eingeweihten" "zu allen Zeiten und allen Orten" wirklich "im wesentlichen das Gleiche" in der A.-Chronik lesen können, so hätte es zu einem solchen gravierenden Widerspruch - und damit zur Trennung Steiners von der Theosophischen Gesellschaft - nie kommen dürfen. Hier bleibt nur die Alternative, entweder der theosophischen oder der anthroposophischen Schau zu vertrauen. Nur eine Richtung - wenn überhaupt - kann recht haben (oder keine von beiden!). Wo aber ein solcher Glaube an die Schauenden gefordert wird, ist das Gebiet der wissenschaftlichen Nachprüfbarkeit verlassen.

3.3. Die Beeinflussung der Hellseher durch die historische und kulturelle Situation:

Wie kommt es nun zu solchen Widersprüchenzwischen den verschiedenen Schauenden? Hemleben gibt folgende Erklärung: "In diesem Zusammenhange muss gesehen werden, dass die Theosophische Bewegung ihr Hauptquartier in Adyar bei Madras (Indien) hatte und primär aus orientalischen Quellen schöpfte. Rudolf Steiner ehrte den Osten, aber eine Lösung der Probleme des Westens erwartete er nicht von ihm." Zu deren Lösung "wird eine Kraft benötigt die aus diesem Geiste des Abendlandes selbst gewonnen ist" (ebd., 80ff.). Die Widersprüche rühren also von den unterschiedlichen Traditionen her, in denen die Schauenden stehen: die Theosophie mehr in der orientalischen (hinduistischen und buddhistischen), Steiner mehr in der abendländischen (jüdisch-christlichen) Tradition. Aus dieser Feststellung ergibt sich als weitere Konsequenz: Die jeweilige Tradition - das heisst: der kulturelle und historische Hintergrund - des Schauenden beeinflusst maßgeblich die Inhalte seiner Schauungen. So erweist sich Steiners Behauptung, der Hellseher würde von der "vergänglichen Geschichte" zur "unvergänglichen" bzw. zum "Ewigen" vordringen (616,16f.), als falsch. Es ist sehr wohl die vergängliche Geschichte, an die er anknüpft und die ihm Art und Inhalt seiner Schauungen diktiert, nämlich seine eigene Zeit und Umwelt und auch die bereits vorhandene esoterisch-okkulte Literatur der jeweiligen Tradition. In seinen Schilderungen mit dem Titel "Aus der A.-Chronik" nennt Steiner gleich im Vorwort selbst seine Quelle, von der er ausgeht und zu der er "Ergänzungen" bringt: "Dass der Meeresboden des Atlantischen Ozeans einstmals Festland war, dass er durch etwa eine Million von Jahren der Schauplatz einer Kultur war, die allerdings von unserer heutigen sehr verschieden gewesen ist: dies, sowie die Tatsache, dass die letzten Reste dieses Festlandes im zehnten Jahrtausend v. Chr. untergegangen sind, kann der Leser in dem Büchlein 'Atlantis, nach okkulten Quellen, von W. Scott-Elliot' nachlesen. Hier sollen Mitteilungen gegeben werden über diese uralte Kultur, welche Ergänzungen bilden zu dem in jenem Buch Gesagten" (616,18). Während bei Scott-Elliot "mehr die Außenseite, die äußeren Vorgänge bei diesen unseren atlantischen Vorfahren geschildert werden", soll bei Steiner "einiges verzeichnet werden über ihren seelischen Charakter und über die innere Natur der Verhältnisse, unter denen sie lebten" (ebd.). Wer war W. Scott-Elliot? Im "Lexikon des Geheimwissens" von H.E. Miers (1986, 366) findet sich folgende Charakterisierung: "Scott-Elliot. W, neben Jules Verne einer der ersten Science-Fiction-Schriftsteller; von ihm stammen die Vorlagen, aus denen Annie Besant, Leadbeater und R. Steiner die Einzelheiten über Rassen, Atlantis und Lemuria geschöpft haben." In seinem erstmals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erschienenen Buch "Atlantis nach okkulten Quellen" hatte Scott-Elliot z.B. die Fähigkeit der "atlantischen Luftfahrzeuge" folgendermaßen beschrieben: "Die Flughöhe belief sich nur auf einige 100 Fuß, so dass, wenn hohe Berge in der Fluglinie lagen, die Richtung gewechselt und der Berg umfahren werden musste." Steiner kennzeichnet in seinem 1904 verfassten Aufsatz mit dem Titel "Unsere atlantischen Vorfahren" die Fähigkeit der atlantischen Luftfahrzeuge so: "Diese Fahrzeuge fuhren in einer Höhe, die geringer war als die Höhe der Gebirge der atlantischen Zeit, und sie hatten Steuervorrichtungen, durch die sie sich über diese Gebirge erheben konnten" (616,22f). Während Scott-Elliots Atlantier die Berge umfahren mussten, können sie sich bei Steiner über sie erheben. Dieser Widerspruch ist im Rahmen der A.-Forschung unerklärlich; er löst sich aber auf, wenn wir den Blick weg vom Geschilderten und hin auf die Verfasser richten. Zur Zeit von Scott-Elliot gab es lediglich Heißluftballons, die relativ unbeweglich waren und deren Insassen befürchten mussten, an plötzlich auftauchenden hohen Bergen zu zerschellen. Ein Jahr, bevor Steiner seinen Aufsatz schrieb, hatten hingegen die Gebrüder Wright mit ihrem Doppeldecker "Flyer" die ersten Motorflüge durchgeführt, bei denen Steuervorrichtungen jede gewünschte Richtungsänderung - sowohl horizontal als auch vertikal - rasch ermöglichten. Die Schau des Hellsehers ist somit- wie auch J. W. Hauer (ebd., 92) schreibt - "in der Richtung fortgeschritten ... in der die technische Entwicklung seiner eigenen Zeit fortgeschritten ist. Einen schlagenderen Beweis für die Beeinflussung des Hellsehers durch seine Umgebung kann es kaum geben"". Diese Tatsache aber ist für Hauer wie für uns "der stärkste Anlass zum Zweifel an der Wirklichkeit der Akaschachronik, oder doch wenigstens an der Fähigkeit der theosophischen und anthroposophischen Hellseher, diese Weltenchronik zu lesen". Wie Hauer sind wir "geneigt, anzunehmen, dass es sich - wenn überhaupt Erlebnisse der Art vorliegen - um Suggestionserlebnisse hellseherischer Naturen handelt, die zu ihren Erleuchtungen durch die ... Hingabe an die `Offenbarungen' des Elliotschen Buches (und anderer Schriften; d. Verf.) gekommen sind".

4. Biblisch-theologische Kritik der A.-Chronik

Hierzu betrachten wir noch etwas näher, wie das "Lesen in der A.-Chronik" abläuft. Wir erinnern uns an Rittelmeyers Beschreibung: Um Ereignisse der Vergangenheit zu erforschen, versetze sich der Hellseher in die "Seele" der damals Beteiligten und taste sich - ausgehend von Ereignissen, die "starke seelische Erlebnisse" mit sich brachten - immer weiter in deren "Erinnerung" zurück. "Eine Schlacht Cäsars wird ... von der Seele Cäsars aus miterlebt", und das Leben Jesu vom "Pfingsterlebnis" der Jünger her." Steiner selber beschreibt letzteren Vorgang folgendermaßen: "Heute will ich von dem sprechen, was man das Pfingstereignis nennt. Es war für mich selber der Ausgangspunkt des Fünften Evangeliums. Den Blick wendete ich zuerst in die Seelen der Apostel und Jünger, die nicht nur nach der Tradition, sondern wirklich versammelt waren zu dem Zeitpunkt des Pfingstfestes ... Es gibt einen ungeheuren, tiefgehenden Eindruck, wenn man so zuerst sieht, wie am Pfingstfeste die Seelen der Apostel zurückschauend hinblicken auf das Ereignis von Golgatha. Und ich gestehe, daß ich zuerst den Eindruck hatte, nicht direkt hinblickend auf das Mysterium von Golgatha, sondern schauend in den Seelen der Apostel, wie sie es gesehen hatten, vom Pfingstfeste hin schauend" (148,208f). Was geschieht hier? Steiner beansprucht, Mitteilungen von Menschen zu bekommen, die zum Zeitpunkt seiner Schau längst verstorben sind. Auch wenn er diese Tatsache zu verdecken sucht, indem er behauptet, im Geiste zu den damals lebenden Personen zurückzureisen, so handelt es sich faktisch doch um ein Befragen von Totengeistern, d.h. um eine sublime Art von Spiritismus. Durch sein Schauen in die A.-Chronik bzw. in die Seelen von Verstorbenen erweist sich Steiner als ein spiritistisches Medium. Wenn Steiner sich immer wieder gegen den gewöhnlichen Spiritismus, den Bereich "des Aberglaubens, des visionären Träumens, des Mediumismus" abgrenzt (z. B. in: 600,153 ff), so geschieht das nur insofern, als er diesen Wegen die Befähigung abspricht, in unserer Zeit wirklich zur Erkenntnis höherer Welten zu gelangen: "Was aber durch solche Offenbarungen (sc. des gewöhnlichen Spiritismus und Mediumismus) zutage tritt, ist keine übersinnliche, es ist eine untersinnliche Welt" (600,155; Hi0). Rittelmeyer schreibt: "Rudolf Steiner stand ... wohl direkt über den medialen Hellsehern der Vergangenheit und Gegenwart, aber eben um eine ganze Spiralwindung höher" (Theologie und Anthroposophie, 1930, 115). Der Unterschied zwischen Steiner und den medialen Hellsehern des gewöhnlichen Spiritismus ist somit kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller. Beide beanspruchen, in Kontakt mit den Geistern Verstorbener zu treten, wenn auch auf verschiedenen Wegen. Beide betreiben somit Spiritismus und unterliegen der gleichen Beurteilung. Nach dem Zeugnis des Alten und Neuen Testaments hat Gott jede solche Betätigung grundsätzlich verboten. Befragung von Totengeistern und Hellseherei gehören zu den heidnischen Praktiken, durch welche der Mensch die Souveränität Gottes und die Alleingültigkeit seiner Offenbarung in Frage stellen und selbst wie Gott sein will. Sie sind Gott ein "Gräuel" und - als Verstoß gegen das erste Gebot - Sünde (vgl. Ex 20,2f; Lev 19,31; 20,6.27; Dtn 18,10ff; Jes 8,19). Das frühe Christentum hat die schroffe Ablehnung derartiger Praktiken uneingeschränkt übernommen. Die Totenbefragung gehört zu den Praktiken der pharmakoi und magoi, die Gott verwirft (Act 13,6.8; Gal 5,20; Apk 21,8; 22,15). Die A.-Chronik kann somit nicht Richterin der Bibel und anderer Quellen sein, da sie keine unfehlbare Instanz ist, die sich über diese stellen könnte. Weil das angebliche "Lesen" in ihr durch verhüllt-spiritistische Praktiken zustande kommt, widerspricht es dem Zeugnis der alt- und neutestamentlichen Schriften, die solche Praktiken als Übertretung des ersten Gebots und Sünde verwerfen.

S. auch: Neuoffenbarung; Okkultismus; Reinkarnation; Spirituelle Interpretation; Steiner, Rudolf; Anthroposophie; Theosophie; Erkenntnisse höherer Welten.

Lit.: R. Steiner, Aus der Akasha-Chronik, 1904-1908, TA 616. - Kritisch: L. Gassmann, Anthroposophie, 2000.

Lothar Gassmann


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