Urgemeinde

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.Die ersten christlichen Gemeinden waren judenchristlich geprägt. Es handelt sich bei Judenchristen um Angehörige des jüdischen Volkes, die Jesus als Messias anerkannten. Die erste christliche Gemeinde war die Gemeinde Jerusalem. Sie war die wichtigste Gemeinde während der ersten Jahrzehnte der frühen Christenheit. Auch sie war judenchristlich (Apg 2,36.39). Ihre Glieder hielten die jüdischen Gesetze (Apg 10,14) und besuchten gemeinsam mit ihren Volksgenossen den jüdischen Tempel (Apg 2,46; 3,1). Als die Gemeinden verfolgt wurden, mußten viele Christen Jerusalem verlassen. Sie bezeugten in Judäa und Samarien, wohin sie meist flohen, Jesus als den von den Juden erwarteten Messias (griech. Christos) (Apg 8,1.4). Durch diesen Missionsdienst kamen weitere Juden zum Glauben. Es entstanden weitere judenchristliche Gemeinden in Judäa und Samarien (Apg 8,14-17).

Mit der Taufe trat man der Gemeinde bei (Apg 2,42). Eine Besonderheit der Jerusalemer Gemeinde war, daß man in einer Art Kommune lebte (Apg 2,44). Man hielt das Abendmahl, hielt sich zur Lehre der Apostel, hatte enge Gemeinschaft miteinander und betete treu.

Der erste uns bekannte Nichtjude, der getauft wurde, war der damalige äthiopische Finanzminister (Apg 8,38). Die erste heidnische Familie und dadurch eventuell erste heidenchristliche Gemeinde, kam nach einer Offenbarung, die Gott Petrus gab, in Cäsarea zum Glauben (Apg 10,45-48).

Nachdem sich Paulus bekehrt hatte, wurde er zum bedeutendsten Missionar unter den Heiden (Gal 2,7). Durch seinen Dienst entstanden viele Gemeinden vor allem in Kleinasien (heute Türkei) und Griechenland (Apg 16.9). Sein Dienst soll ihn bis Spanien gebracht haben (Röm 15,24).

In diesen Gemeinden glaubte man an Jesus als den Retter. Man vertraute auch der Bibel des AT, aber im Unterschied zu den judenchristlich geprägten Gemeinden hielt man die Besonderheiten des jüdischen Gesetzes nicht mehr (Gal 3,14; 4,10.11).

Durch die unterschiedliche Stellung der ersten Christen zum jüdischen Gesetz kamen Spannungen in die Urgemeinde. Es erhob sich die grundsätzliche Frage, ob man nicht, bevor man Christ werden könne, erst Jude sein müsse. Über dieser Frage kam es zu harten Auseinandersetzungen in der ersten Christenheit (Apg 14,1.2; Gal 2,11-13). Ein Treffen der führenden Männer der Urgemeinde (Apostelkonzil) schaffte im Jahr 48 n. Chr. Einigkeit. Das Ergebnis wurde folgendermaßen zusammen gefaßt:

"Darum meine ich, daß man denen von den Heiden, die sich zu Gott bekehren, nicht Unruhe mache, sondern ihnen vorschreibe, daß sie sich enthalten sollen von Befleckung durch Götzen und von Unzucht und vom Erstickten und vom Blut" (Apg 15,19-20).

Hier wurde den Heidenchristen nur noch aufgelegt, was von Noahs Zeiten bereits als göttliche Ordnung für alle Menschen gelten sollte (vgl. 1. Mose 9,4). Bis auf einige extreme Judenchristen, die den Streit immer wieder einmal entfachten, haben die Judenchristen des 1. Jahrhunderts diesen Kompromiß akzeptiert.

In dieser Zeit kam es zu keiner organisatorischen Spaltung der Christenheit. Man konnte die Einheit im Geist bewahren (Eph 4,3). Das zeigt sich auch daran, daß der in einigen judenchristlichen Kreisen umstrittene Apostel Paulus eine Sammlung in den heidenchristlichen Gemeinden zugunsten der in finanzielle Not geratenen Urgemeinde in Jerusalem durchführte (1. Kor 16,1.3). Das Zentrum des Judenchristentums blieb die Urgemeinde in Jerusalem, deren Gemeindeleiter der leibliche Bruder Jesu, Jako-bus, war. Auch bei nicht an Jesus als Messias glaubenden Juden galten diese Leute als besonders gesetzestreu.

Die Minderheit der extremen Judenchristen, der das Aposteldekret nicht zusagte, versuchte in den heidenchristlichen Gemeinden eine Art Gehirnwäsche zu betreiben. Aus menschlicher Rücksicht und Diplomatie ließen sich zeitweise auch Apostel in diese Machenschaften verwickeln (Gal 2,12.13). Dies war zwar belastend, führte aber noch zu keiner Spaltung. Im Jahre 66 n. Chr. verließen die Judenchristen aufgrund von Weissagungen Jerusalem und das Westjordanland. Sie siedelten sich in Pella am Toten Meer an und überstanden so den großen jüdischen Krieg. Von den Juden wurden sie um das Jahr 100 offiziell ausgestoßen und als Ketzer verflucht.

Leider entwickelten sich nach dem Tod der letzten Apostel Juden- und Heidenchristen stark auseinander. Die Reste der Judenchristen nannte man Ebioniten oder auch Sobiai, was soviel wie Getaufte (Juden) bedeutete. Da sie zur übrigen Gemeinde, die vorwiegend aus Heidenchristen bestand, wenig Kontakt hielten, kamen in den nächsten Jahrhunderten verschiedene Irrlehren in ihren Reihen auf. Reste dieser lehrmäßig immer mehr verirrten Sekte finden sich bis zur arabischen Invasion in Palästina 635 n. Chr.

Neben dem Konflikt zwischen Judenchristen und Heidenchristen blieb die Gemeinde der apostolischen Zeit auch vor anderen Gefahren nicht bewahrt. Dies waren vor allem Menschenhängerei und persönlicher Ehrgeiz.

"Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, daß ihr alle mit einer Stimme redet und laßt keine Spaltungen unter euch sein, sondern haltet aneinander fest in einem Sinn und in einer Meinung" (1. Kor 1,10).

In Korinth kam es zu innergemeindlichen Flügeln, was aber nicht zu einer organisatorischen Spaltung führte. Namen standen für diese innergemeindlichen Parteien: paulinisch (für Paulus), kephisch (für Petrus), apollisch (für Apollos) und sogar christisch (angeblich ohne menschliches Idol). Durch diese Parteien war die Gefahr der Spaltung immer da. Besonders Paulus arbeitete dagegen und konnte direkte Spaltungen verhindern (1. Kor 1,13). Auch Ehrgeiz und tyrannisches Herrschaftsgebaren führten zu Gruppenbildungen (Phil 2,15). Aber von einer direkten Spaltung kann man auch dadurch noch nicht reden.

Die bekannten gnostischen Sekten der Zeit, mit denen schon der Apostel Johannes Mühe hatte (1. und 2. Johannesbrief), können kaum als Christen betrachtet werden (Gnosis). Sie waren keine Abspaltung, sondern Anhänger einer griechischen Philosophie, die in sich auch christliche Elemente aufnahm. Sie vertraten einen anderen Glauben und können nicht als wirkliche Spaltungen angesehen werden. Es sind uns einige Namen von gnostischen Führern bekannt:

Ihre Gedanken scheinen auf einige Gemeindeleiter Eindruck gemacht zu haben, haben aber an der Basis der gläubigen Gemeinde kaum Zuspruch gefunden. In die gleiche Kategorie müssen wir auch die Nikolaiten rechnen, die in der Offenbarung des Johannes erwähnt werden (Offb 2,6.15).

Die Rechthaberei allerdings und auch unchristliche Arbeitsweise einzelner Christen hat dem Apostel Paulus viel Herzeleid gebracht. Viele dieser falschen Brüder waren nicht wirklich gläubig (Gal 2,4; Jud 4). Sie waren Vorläufer späterer Spalter (2. Tim 3,5).

Johannes warnt die Christen am Ende des ersten Jahrhunderts vor den Aktivitäten gnostischer Wanderprediger. Durch sie bestand die Gefahr wirklicher Spaltungen. Johannes empfiehlt, jeden Kontakt zu diesen "Antichristen" zu meiden (2. Joh. 7-11)

Eine Art ersten Spaltungsversuchs kann man vielleicht hinter den Aktivitäten des Diothrephes sehen, der aber nur örtliche Bedeutung hatte (3. Joh 9.10).

Im Ganzen gesehen kann man feststellen, daß es im 1. Jahrhundert zu keinen organisatorischen Spaltungen der Gemeinde kam. Es gab nur Prägungsunterschiede, die man aushalten mußte. Aufgrund von menschlicher Schwäche und Schuld aufgekommene Streitigkeiten und Machtkämpfe waren bitter. Es entwickelten sich Ansätze, die zu späteren Spaltungen führten, aber alles in allem gab es die eine christliche Gemeinde, die aus vielen selbständigen Einzelgemeinden bestand. In ihr wirkte der Heilige Geist. Die Apostel und ihre Mitarbeiter hielten die Verbindung zwischen den Christen aufrecht. Dies geschah durch Predigt und Seelsorge, durch geistliche Schreiben, wenn nötig auch durch das Anregen gegenseitiger materieller Unterstützung.

Es ist zu beobachten, dass die zur Zeit der Urgemeinde erkennbaren theologischen und menschlichen Probleme bis in die Neuzeit Anlaß der Kirchenspaltungen wurden. Schwärmereien und Rationalismus wie menschliche Machtgier und Gesetzlichkeit führten später zu den Kirchen und Gemeindespaltungen.

S. auch: Gemeinde im Neuen Testament.

Lit.: K. M. Fischer, Das Urchristentum, 1985; E. Schnepel, Christus im Römerreich, 1950.

Rainer Wagner


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