Schrift, Tradition und Lehramt

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.A. Die drei Fundamente der katholischen Lehre

Der evangelische Theologe Karl Barth sprach im Blick auf den römischen Katholizismus von einer "Bindestrich-Theologie". Bindestrich-Theologie heißt, daß zwei Größen, die zunächst wie Gegensätze aussehen, miteinander in Korrelation, ja sogar in Vereinigung gebracht werden können, etwa Heilige Schrift und Tradition, Glaube und Vernunft, Gnade und Natur, Kreuzesopfer Christi und eucharistisches Opfer, Christus und die Heiligen usw. Dem gegenüber steht das vierfache reformatorische Allein: sola scriptura (allein die Heilige Schrift), solus Christus (allein Christus), sola gratia (allein aus Gnaden), sola fide (allein durch den Glauben).

Es ist geradezu spezifisch für den Katholizismus, dass er keine Religion der Gegensätze ist, sondern der Integration, ja sogar der Synthese, der Verbindung von zunächst unvereinbar scheinenden polaren Gegensätzen. Und das kann er deshalb tun, weil er beansprucht, die allumfassende Religion (griech. katholikos = allumfassend) zu sein, welche die Fülle und Ganzheit des Seins in sich umfaßt und integriert.

Die Katholische Kirche ruht nicht auf einem Fundament, der Heiligen Schrift, sondern auf drei Fundamenten: die heilige Schrift inklusive Apokryphen; die Überlieferung der Kirche aus altkirchlicher, aber auch gesamtkirchlicher Entwicklung; und darauf aufbauend das Lehramt der Kirche, verkörpert insbesondere im höchsten Funktionsträger, dem Papst. Im II. Vatikanischen Konzil wurde dies so formuliert:

"Es zeigt sich also, daß die heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß keines ohne die anderen besteht und daß alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen" (zit. nach J. Mc Carthy, Das Evangelium nach Rom, S. 333).

B. Was gehört zur katholischen Tradition?

Was gehört nun zur Tradition der Katholischen Kirche? Es sind Verlautbarungen der anerkannten Kirchenväter, Konzilsbeschlüsse und päpstliche Beschlüsse aus den zwei Jahrtausenden der Christenheit. Nachfolgend nenne ich einige Beispiele für hoch anerkannte Verlautbarungen.

Da ist zum einen der Katechismus der Katholischen Kirche als verbindliches Lehrdokument, das für die gesamte Weltchristenheit (zumindest für die katholischen Christen) in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts neu herausgegeben wurde. Dies ist ein Weltkatechismus, in dem verbindlich die Lehre zusammengestellt ist für jeden Menschen, der katholisch sein will. In diesem Katechismus wird vieles zitiert, zum Beispiel aus den Konzilen.

Es gab bisher 21 allgemeine oder ökumenische Konzile im Laufe der Kirchengeschichte. Die Verlautbarungen dieser Konzile werden als maßgebliche Definitionen des römisch-katholischen Glaubens betrachtet. Die letzten und einflussreichsten Konzile für die Gegenwart sind das Konzil von Trient 1545-1563, also unmittelbar im Todesjahr Luthers begonnen und dann darüber hinaus geführt. Dieses hat vor allem die Auseinandersetzung mit der reformatorischen Theologie betrieben und ist ja bis heute in vielem für Katholiken gültig. Dann ist darüber hinausgehend und insbesondere bezüglich der päpstlichen Unfehlbarkeitslehre bekannt geworden das I. Vatikanische Konzil. Dies war für zwei Jahre, nämlich 1869-1870, bedeutend kürzer. Und schließlich in der nahen Gegenwart das II. Vatikanische Konzil 1962-1965, bei dem manche Verlautbarungen der letzten Konzile modernisiert und durch Neuinterpretation etwas relativiert und an den Zeitgeist angepasst wurden. Beim II. Vatikanischen Konzil hat sich die Katholische Kirche etwas mehr geöffnet und der Gegenwart angepasst (ital. aggiornamento). Die Konzilsbeschlüsse sind für Katholiken verbindlich. Es existieren auch päpstliche Schreiben, welche große Bedeutung für den einzelnen Katholiken besitzen, allerdings nicht die gleiche Verbindlichkeit wie konziliare Verlautbarungen.

Ferner gibt es den Codex Iuris Canonici, den Kodex des kanonischen Rechts, welcher die Gesetze und Normen der Römisch-Katholischen Kirche enthält. Der Kodex von 1983 umfasste 1752 Gesetze für Katholiken. Dieses Gesetzbuch lässt sich durchaus vergleichen mit dem Bürgerlichen Strafgesetzbuch des Staates. In den Konzilien wird katholischer Glaube definiert. Es geht um Glaubensfragen, Christologie, Ekklesiologie usw., während der Rechtskodex Dinge regelt, die mit Pflichten und Rechten der Katholiken zu tun haben, mit Fragen der Sakramentsverwaltung, Organisation katholischer Fakultäten, Einsetzung und Entlassung von Priestern und Bischöfen und überhaupt von Amtsträgern. Alle diese Dinge werden hier bis ins Detail abgesichert.

Der Katholizismus kennt auch viele liturgische Schriften und ältere Katechismen, die allerdings durch den neuen Katechismus überholt sind. Verbindlich ist also jetzt der neue Weltkatechismus aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts.

C. Was lehrt die Katholische Kirche über die Bibel?

Im neuen römisch-katholischen Katechismus (Katechismus der Katholischen Kirche = KKK) wird zunächst festgestellt, dass Gott der Urheber, der Autor der Heiligen Schrift, ist, dass die Heilige Schrift entstanden ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes. Gott hat die menschlichen Verfasser der Heiligen Schrift inspiriert (KKK Nr. 105 und 106). Sie ist also Gottes Wort und Menschenwort. Das wird von römisch-katholischer Seite durchaus gesagt, auch dass die inspirierten Bücher die Wahrheit lehren (Nr. 106). In KKK Nr. 107 heißt es:

"Da also all das, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muß, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, daß sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles Willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte."

In der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung vom II. Vatikanischen Konzil wird behauptet, dass eine Irrtumsmöglichkeit auf rein profanem (weltlichem) Gebiet in der Heiligen Schrift bestehe. Die Heilige Schrift lehre alles das wortgetreu und ohne Irrtum, was Gott

"um unseres Heiles Willen in den Heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte",

aber es gebe Irrtümer auf historischem und naturwissenschaftlichem Gebiet (Neuner-Roos, S. 105).

Die Wahrheit wird also in Heilsfragen betont, aber nicht unbedingt in naturwissenschaftlichen Fragen. Davon ist man inzwischen im Katholizismus davon abgerückt (s.u.). Diese verhängnisvolle Unterscheidung finden wir unter dem Einfluss der Aufklärungsphilosophie und "modernen" Theologie also inzwischen auch im Katholizismus: die Unterscheidung zwischen Zuverlässigkeit in Heilsdingen, aber angeblich mangelnder Zuverlässigkeit im naturwissenschaftlichen oder historischen Bereich (s. hierzu ausführlicher: Bibel; Bibelkritik).

Ferner wird festgestellt, daß der christliche Glaube nicht eine Buchreligion sei, sondern dass das lebendige Wort, Christus selber, im Zentrum stehe (KKK Nr. 108). Und d iese Feststellung, dass das Christentum keine Buchreligion sei, ebnet den Weg für eine "dynamische" ("lebendige", "bewegliche") Auffassung vom Wort Gottes: vom Wort, das nicht im Buch der Heiligen Schrift allein fixiert sei, sondern lebendig auch heute durch Tradition und Lehramt zu uns spreche. So wird in Nr. 113 des Römischen Katechismus gesagt:

"Die Schrift ´in der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche` lesen."

Die Schrift und ihre Auslegung ist also eingebettet in die Tradition mit dem daraus erwachsenen Lehramt. So wird die Bedeutung der Heiligen Schrift relativiert und der Auslegung des Lehramts (Papsttum) unterworfen.

Ebenfalls im neuen Katechismus wird die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn aufgegriffen und für die Gegenwart bestätigt. Diese Lehre führt zur Relativierung der klaren Aussagen der Heiligen Schrift. So heißt es in Nr. 115:

"Nach einer alten Überlieferung ist der Sinn der Schrift ein doppelter: der wörtliche Sinn und der geistliche Sinn. Dieser letztere kann ein allegorischer, ein moralischer und ein anagogischer sein."

Der allegorische Sinn ist eine Deutung über dem Wortsinn hinaus. Es wird etwas hineingelegt, was nicht vom Text und Kontext her dasteht. — Der moralische Sinn bezieht sich auf das richtige Handeln des Menschen, die Anwendung eines Textes auf das gegenwärtige Handeln; auch wenn es ein Geschichtsbericht ist, wird er jetzt auf das Handeln des heutigen Menschen gedeutet. — Und der anagogische Sinn möchte

"Wirklichkeiten und Ereignisse in ihrer ewigen Bedeutung sehen, die uns zur ewigen Heimat hinaufführt",

wie es im Katechismus formuliert wird (Nr. 117). Dies hat also eine eschatologische Komponente.

Der Merkvers des Mittelalters lautet: "Litera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, qou tendas anagogia." Auf deutsch: "Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie."

Beurteilung: In der Predigt ist die Anwendung eines mehrfachen Schriftsinns - in aller Behutsamkeit und Vorsicht - durchaus legitim, wenn es um persönliche Anwendungsbereiche geht, aber nicht wenn Lehren aufgestellt werden. Wenn Lehren aufgestellt werden, ist vom Wortsinn auszugehen. Die erbauliche Anwendung, etwa in einer Predigt, ist also zu unterscheiden von der Aufstellung eines Dogmengebäudes. Aber genau dies geschieht im katholischen Denken, dass mit Hilfe des "geistlichen" (allegorischen, moralischen und anagogischen) Schriftsinnes Lehrgebäude aufgebaut werden. Die Reformatoren haben demgegenüber zu Recht die Rückkehr zum eindeutigen Wortsinn und zur Klarheit der Heiligen Schrift (claritas scripturae) eingefordert und betrieben.

D. Das Verhältnis zwischen Heiliger Schrift, Tradition und Lehramt

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis zwischen Heiliger Schrift, Tradition und Lehramt der Katholischen Kirche? Hierzu heißt es in Neuner-Roos auf Seite 70:

"Insofern nämlich dieses schriftliche Zeugnis vom Glauben der Urkirche als bleibend normative Größe für die späteren Zeiten der Kirche von Gott gewollt ist, ist die Heilige Schrift unmittelbar von Gott eingegeben. Gott ist ihr Urheber, was echte menschliche Verfasserschaft aber nicht ausschließt ... Auch das kirchliche Lehramt hat gegenüber dem in der Heiligen Schrift niedergelegten Wort Gottes nur eine hörende und dienende Funktion. Das Lehramt ist nicht Norm der Schrift, sondern Norm des Schriftverständnisses des Einzelnen in der Kirche."

Es gibt also keine Freiheit des Einzelnen, die Schrift zu verstehen, sondern die Auslegung, die das kirchliche Lehramt — zugespitzt in der Person des Papstes — vertritt, ist normativ für alle Glieder der Römisch-Katholischen Kirche. Deshalb hat die Katholische Kirche jahrhundertelang ihren Gläubigen die Heilige Schrift vorenthalten, weil sie davon ausging, der Einzelne könne die Bibel gar nicht richtig verstehen. Es müsse alles lehramtlich für die Gemeinden definiert werden. Wir lesen weiter bei Neuner-Roos auf Seite 70:

"Aber Gott konnte nicht dem Buchstaben allein seine Offenbarung und sein Gnadenangebot anvertrauen, sondern das geschriebene Wort muß in das lebendige Wort der Überlieferung eingegliedert bleiben."

Das Lehramt ist also der Heiligen Schrift vorgeordnet, was die Auslegung und Vergegenwärtigung anbetrifft. Dies wird durch das weitere Zitat noch deutlicher:

"Schon allein die Bestimmung, welche Bücher von Gott eingegeben sind, ist nur durch die lebendige Überlieferung möglich, da ja kein Buch an sich selber unmittelbar die Zeichen göttlicher Eingebung trägt. Vor allem aber bedarf der Inhalt der Heiligen Schrift selbst einer Norm der Auslegung und stets neuen Aktualisierung ... So hat die Kirche, gegen die reformierten (gemeint ist wohl: reformatorischen; L. G.) Kirchen, immer daran festgehalten, daß der Buchstabe der Heiligen Schrift für sich allein nicht die ausschließliche Norm des Glaubens sein kann. Vielmehr ist das Wort Gottes in der Heiligen Schrift der ganzen Kirche anvertraut, die durch das authentische Lehramt den Sinn der Schrift darzulegen hat und dies unter dem Beistand des verheißenen Heiligen Geistes, vor allem in ihrer Glaubenspredigt und unter Umständen auch durch authentische, ja in seltenen Fällen durch unfehlbare Einzelentscheidungen tut" (Neuner-Roos, S. 70 f.).

Dies richtet sich unmittelbar gegen das reformatorische ‘sola scriptura’, ‘Allein die Heilige Schrift’. Es sei also nicht die Heilige Schrift die ausschließliche Norm des Glaubens, sondern das authentische Lehramt habe dieses in der Heiligen Schrift verankerte Wort Gottes authentisch darzulegen unter Beistand des Heiligen Geistes, gegebenenfalls unfehlbar. Hier wird eine in Wirklichkeit menschliche Autorität, das Papsttum, über das inspirierte Wort Gottes gestellt, da die Auslegung ja der Schlüssel sei zum Wort Gottes selber und ohne diese Zwischenstufe, diesen Schlüssel, keiner das Wort Gottes angeblich richtig verstehen könne. Das wird auch offen zugegeben, indem gesagt wird, dass die Überlieferung gegenüber der Heiligen Schrift das Umfassendere sei:

"Denn Überlieferung ist, ohne den Boden der Schrift zu verlassen, mehr als der Buchstabe der Schrift. Die Überlieferung ist das Umfassendere, da es einen Fortschritt im Verständnis der überlieferten Worte und Dinge gibt und die Kirche aus der lebendigen Überlieferung die Gewißheit über alles Geoffenbarte schöpft (Dogmenentwicklung)" (Neuner-Roos, S. 71).

Die Überlieferung erfährt also gegenüber der Heiligen Schrift eine enorme Aufwertung, ja, ohne sie könne niemand die Schrift wirklich verstehen. Somit wird also in die Hände des Papstes und des Bischofskollegiums unter Leitung des Papstes die letztgültige Auslegung gelegt. Im II. Vatikanum wurde dies so definiert:

"Die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten. So ergibt sich, daß die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden" (Neuner-Roos Nr. 148).

Die Heilige Schrift sei also Gottes Rede unter Anhauch des Heiligen Geistes, die Überlieferung sei die anvertraute Basis für die heutige Auslegung. Jetzt kommt der dritte Aspekt:

"Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird" (Neuner-Roos Nr. 149).

Und nun eine gewisse Abmilderung:

"Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft" (ebd.).

Es wird also beansprucht, das Lehramt habe zwar eine wichtige Funktion, aber es sei im Einklang mit der Heiligen Schrift. Das ist der Selbstanspruch, den wir durchaus hören und prüfen müssen. Wenn wir allerdings die Lehrentwicklung der Katholischen Kirche betrachten, treten viele — auch massive! — Widersprüche zur Lehre der Heiligen Schrift selber auf, die man, wenn man sich nicht blind einem päpstlichen Lehramt unterwirft, eindeutig erkennen kann (Sonderlehren).

Katholischerseits wird argumentiert, dass die Überlieferung der Heiligen Schrift historisch vorausgegangen ist, dass zuerst die mündliche Überlieferung da war und dann erst die Bibel entstand. Ist diese Behauptung haltbar oder nicht? Ich möchte im Anschluss an James McCarthy (Das Evangelium nach Rom, S. 379 ff.) Folgendes dazu bemerken:

Erstens:

Christen waren niemals ohne Heilige Schrift. Sie hatten ja bereits die Schriften des Alten Testaments, des Alten Bundes. Dies wird etwa zum Ausdruck gebracht, als der auferstandene Herr seinen Jüngern auf dem Weg nach Emmaus begegnet und ihnen sagt:

"Oh, ihr Unverständigen und im Herzen zu träge, an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben" (Lk 24, 25).

Jesus erklärte seinen Jüngern, die er traf, von den Schriften des Alten Bundes her die Heilstatsachen, die in Jerusalem in seiner Gestalt geschehen waren. Die Gemeinde war also nie ohne Schrift. Es kamen dann natürlich die neutestamentlichen Schriften hinzu, die Jesus selber vorausgesagt hatte in Johannes 16:

"Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Derselbe wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er`s nehmen und euch verkündigen" (Joh 16,12-15).

Die Verherrlichung Jesu geschah einige Zeit später vor allem durch die Evangelien, die Unterweisung in der Wahrheit vor allem durch die Briefe und die Verkündigung der Zukunft vor allem durch die Johannesoffenbarung. So hat sich diese Ankündigung Jesu Christi wortwörtlich erfüllt.

Zweitens:

Die Heilige Schrift stellt nicht lediglich aufgeschriebene Überlieferung dar und wäre damit auf einer Linie mit der römisch-katholischen Tradition, sondern der Selbstanspruch ist nach 2. Tim. 3, 16 und 2. Petr. 1, 20f., dass es sich bei der Heiligen Schrift um vom Heiligen Geist unmittelbar inspirierte Aufzeichnungen handelt. Man kann sicherlich nicht behaupten, dass die kirchliche Tradition im gleichen Maße und in gleicher Weise inspiriert ist wie die Heilige Schrift.

Drittens

ist festzustellen, daß wir die Heilige Schrift nicht von der Römisch-Katholischen Kirche empfangen haben, sondern durch die Eingebung des Heiligen Geistes. Natürlich gibt es eine historische Entwicklung vom Urchristentum zum Frühkatholizismus, aber diese zog sich über Jahrhunderte hin und erreichte erst im 4. Jahrhundert mit der Entstehung der vom Kaiser anerkannten Reichskirche eine erste Ausformung (s. Papsttum) Entscheidend für die Anerkennung der einzelnen Bücher des Neuen Testaments war nicht in erster Linie deren kirchenamtliche Beglaubigung, sondern die Tatsache, dass sie sich lange zuvor bereits selber als echtes Wort Gottes ausgewiesen haben durch ihren Inhalt, ihre Herkunft von Aposteln oder Apostelschülern und durch die Einheitlichkeit ihrer Lehre (ohne gnostischen oder sonstigen häretischen Einschlag). Schriften, die nicht mit dieser Apostellehre übereinstimmten, wurden schon sehr früh als apokryph oder pseudepigraph ausgeschieden.

Viertens:

Entscheidend allerdings ist die Tatsache, dass die Bibel, die Heilige Schrift, alles Heilsnotwendige in sich selber enthält, dass also keine zusätzliche Offenbarung oder Neuoffenbarung notwendig ist für das Heil des Menschen. In Joh 21,25 wird gesagt:

"Es gibt aber auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn diese alle einzeln niedergeschrieben würden, so würde, scheint mir, selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen."

Und in Joh 20, 30 f. heißt es:

"Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor den Jüngern getan, die nicht in diesem Buch geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen."

Es wird also nur berichtet, was für den Glauben, der das Heil als Gnadengeschenk Gottes empfängt, notwendig ist — und keine zusätzlichen neuen Offenbarungen. Wir denken hierbei insbesondere auch an den Schluß der Bibel in Offb 22,18 f.:

"Ich bezeuge jedem, der die Worte der Weissagung dieses Buches hört: Wenn jemand zu diesen Dingen hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buch geschrieben sind. Und wenn jemand von den Worten des Buches dieser Weissagung wegnimmt, so wird Gott seinen Teil wegnehmen von dem Baum des Lebens und aus der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben ist."

Es ist also illegitim, etwas hinzuzufügen oder hinwegzunehmen, wie es die Katholische Kirche in Form ihrer Tradition tut.

E. Katholische Theologie und historisch-kritische Methode

Heute ist in der Katholischen Kirche die historisch-kritische Methode seit dem II. Vatikanischen Konzil anerkannt. Das war nicht immer so, hatte es doch noch im Antimodernisteneid aus dem Jahre 1910 geheißen, dass eben dieser rationalistische Zugang zur Schrift zu verwerfen ist. Inzwischen hat man sich aber unter dem Druck des Zeitgeistes dem historisch-kritischen Denken in der Schriftfrage geöffnet.

Allerdings ist die Katholische Kirche insgesamt — zumindest von Rom her gesehen — doch noch konservativer als viele protestantische Exegeten, die hier manchmal kein Halten mehr kennen; man denke an Theologen wie Rudolf Bultmann, Gerd Lüdemann und andere. In der Katholischen Kirche hält man durchaus daran fest, dass die Heilige Schrift frei sei von Irrtum im Bezeugen jener Wahrheit, die Gott um unseres Heiles Willen aufgezeichnet hat. Aber es wird auch gesagt, dass die Verfasser "echte menschliche Verfasser" sind. "Ihre Aussageabsicht (ist) durch die Beachtung ihrer geschichtlichen Situation, der literarischen Art ihrer Darstellung und überhaupt durch anerkannte exegetische Forschungsmethoden zu erarbeiten" (Neuner-Roos, S. 73).

Da die Katholische Kirche die Schrift nicht als absoluten und einzigen Maßstab sieht, hat sie es relativ einfach, dass die historische Kritik ihr (der Kirche) keinen Schaden zufügt, indem sie sagt:

"Die Überlieferung ist Norm der Schrifterklärung" (ebd.).

Das heißt, wenn die Schrift fällt, bleibt der Katholischen Kirche immer noch die Überlieferung und das Lehramt. Das ist ihr Vorteil, den sie gegenüber evangelischen Kirchen hat, die ja sagen ‘Allein die Schrift’. Und wenn die Schrift destruiert wird — auch nur versuchsweise -, schwimmen die Grundlagen davon. Die Katholische Kirche hat aber drei Standbeine und daher besitzt sie immer noch — auch wenn sie humpelt — eine gewisse Standfestigkeit.

Das Eindringen der historisch-kritischen Methode in die katholische Exegese begann beim II. Vatikanischen Konzil, etwa verlautbart in der Instruktion der päpstlichen Bibelkommission vom 21. April 1964. Hier wird von der "Notwendigkeit der rationalen Hermeneutik" gesprochen und es wird ausgeführt:

"Wo es nötig erscheint, darf der Ausleger fragen, welche gesunden Elemente die ´formgeschichtliche Methode` enthält, die er zu einem volleren Verständnis der Evangelien mit Recht benützen könnte. Doch möge er dabei umsichtig vorgehen, da mit dieser Methode oft nicht zu billigende philosophische oder theologische Prinzipien offensichtlich verquickt sind, die sowohl die Methode, als auch die literarischen Schlußfolgerungen nicht selten verderben. Manche Vertreter dieser Methoden weigern sich nämlich, durch vorgefaßte rationalistische Meinungen verführt, die Existenz einer übernatürlichen Ordnung und das aufgrund von Offenbarungen im eigentlichen Sinne erfolgte Eingreifen eines persönlichen Gottes zu berücksichtigen" (Neuner-Roos Nr. 140).

Man ist also vorsichtiger. Ferner wird ausgeführt, dass alles angewandt werden kann, "was die allseits wohlbedachte historische Methode beibringt. Diese erforscht eifrig die Quellen und bestimmt ihre Eigenart und Tragweite; als Hilfsmittel bedient sie sich der Textkritik, der Literarkritik und der Sprachenkenntnis" (Neuner-Roos Nr. 139).

Die Entscheidung beim II. Vatikanum lautete also: Die historisch-kritische Methode ja, aber doch mit Vorsicht zu handhaben. Natürlich ist das eine gewisse Gummiformel, denn wo ist dann die Grenze, wo ist dann die rationalistische Wucherung und wo kann sie noch gestoppt werden? Ich denke, wenn ein Krebs erst einmal angefangen hat, ist es immer schwer, ihn noch zu stoppen, bildhaft gesprochen. Man kann ihn im Grunde genommen nur noch herausschneiden (s. hierzu ausführlicher: Bibel; Bibelkritik). Auch wird gesagt:

"Die Wahrheit einer Erzählung wird nämlich nicht im mindesten davon berührt, daß die Evangelisten Worte und Taten des Herrn in verschiedener Reihenfolge berichten und seine Reden nicht wortwörtlich, dennoch sinngemäß, in verschiedener Weise zum Ausdruck bringen" (Neuner-Roos Nr. 143).

Das mag zum Teil verständlich sein, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Jünger memoriert (sich ins Gedächtnis eingeprägt) haben, was Jesus gesagt hat. Dennoch ist hier eine gewisse Öffnung, dass vieles dann behauptet werden kann, vorhanden, wo man sagt: Nur "sinngemäß" sei es überliefert. Hingegen ist beim Memorieren gemäß rabbinischer Tradition durchaus von einem wörtlichen Memorieren des Gehörten auszugehen (vgl. z.B die Forschungen von Riesenfeld, Gerhardsson und Riesner).

F. Die Apokryphen

Dies ist der Begriff für die ‘verborgenen’ Bücher. Die Apokryphen wurden von der Römisch-Katholischen Kirche im Tridentinischen Konzil ausdrücklich als heilige Schriften bezeichnet und festgehalten im Gegensatz zu den Reformatoren, welche diese als zwar "nützlich und gut zu lesen", aber doch nicht der Heiligen Schrift gleichzuordnen bezeichnet hatten. Im römisch-katholischen "Verzeichnis der heiligen Bücher" werden folgende aufgezählt:

"Aus dem Alten Testament: Die 5 Bücher Mosis, nämlich Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium; Josua, Richter, Ruth, 4 Bücher der Könige, 2 Bücher der Chronik, das erste Buch Esdras und das zweite, das Nehemias heißt, Tobias, Judith, Esther, Job, Davids Psalmenbuch mit 150 Psalmen, Die Sprüche, der Prediger, das Hohelied, Weisheit, Ecclesiasticus, Isaias, Jeremias mit Baruch, Ezechiel, Daniel, die 12 kleinen Propheten, nämlich Osea, Joel, Amos, Abdias, Jonas, Michäas, Nahum, Habakuk, Sophonias, Aggäus, Zacharias, Malachias, 2 Bücher der Makkabäer, das erste und zweite." (Neuner-Roos Nr. 89; die von mir kursiv gesetzten Bücher sind Apokryphen; zu ergänzen wäre noch Jesus Sirach).
Im Neuen Testament gibt es keine Apokryphen, die in die Bibel gelangt wären (s.o.). Für die Katholische Kirche ist die Vulgata die maßgebende Schriftausgabe, also die lateinische Übersetzung durch Hieronymus, und nicht der griechische und hebräische Urtext (Neuner-Roos Nr. 92).

In reformatorischer Sicht werden die kanonischen Bücher von den Apokryphen unterschieden. Die kanonischen Bücher sind von Gott inspiriert; sie allein sind Norm und Richtschnur unseres Glaubens. Bei den apokryphen Büchern ist aber ihr göttlicher Ursprung entweder zweifelhaft oder es ist erwiesen, daß kein solcher vorhanden ist. Es wird etwa am Anfang von Jesus Sirach ausdrücklich festgestellt, dass hier menschliche Überzeugungen und Lebensweisheiten vorgestellt werden. So interessant und nützlich sie auch sind, aber sie haben keine letzte Autorität. Es fehlt bei den Apokryphen das innere Zeugnis des Heiligen Geistes, auch das Alter der Schrift und das Zurückgehen auf die ältesten Traditionen. Die Apokryphen selber beanspruchen nicht, dass sie von Gott inspiriert seien. So heißt es in 2. Makkabäer 15,38: "Ist sie (nämlich die Zusammenfassung eines anderen) Werkes gut und geschickt erzählt, habe ich mein Ziel erreicht. Ist sie aber schlecht oder mittelmäßig, ich habe mein Bestes getan." So schreibt ein menschlicher Autor, aber niemals Gott. Und sogar die Römisch-Katholische Kirche hatte bis zum Konzil von Trient die Apokryphen nicht als dogmatisch inspiriert erklärt.

Warum aber hält die Katholische Kirche inzwischen ausgerechnet an den Apokryphen so eisern fest? Die Apokryphen enthalten wesentliche Irrlehren, die die Katholische Kirche vertritt.

Zu diesen Irrlehren gehört vor allem :

Solche Lehren also, die man findet oder auch herausliest aus gewissen Stellen, finden sich in den Apokryphen — und das kann nicht im Einklang stehen mit dem Wort Gottes, in welchem ja genau diese Dinge abgelehnt werden. Man denke etwa an das Verbot des Spiritismus, an die Erlösung des Sünders allein aus Gnaden und an das Verbot abergläubischer Praktiken insgesamt.

Lothar Gassmann


Weitere Artikel in gedruckter Form finden Sie auf der Website von Dr. Lothar Gassmann (Redakteur).