Marcionismus

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.leitet sich von dem altkirchlichen Ketzer Marcion und dessen Anhängern, den Marcioniten, her.

1. Marcion

Marcion (ca. 85 — 160 n. Chr.) war ein reicher Reeder und Kaufmann, der aus Sinope im Pontus (Kleinasien) stammte und Mitglied der christlichen Gemeinde in Rom war. Er versuchte, die römische Gemeinde für sein Verständnis der christlichen Botschaft zu gewinnen. Weil dies nicht gelang und sich die römische Gemeinde aus dogmatischen Gründen von ihm trennte, gründete er 144 n. Chr. seine eigene Kirche, die sich weit über Rom hinaus ausdehnte. 154 n. Chr. führte er evtl. in Rom ein Lehrgespräch mit Polykarp. Seine Anhänger nannten sich selbst Marcioniten, was belegt, welch großes Ansehen Marcion hatte. Marcion ist der einzige Häretiker, der zu seiner Zeit eine eigene Kirche gründete, von der wir heute noch wissen.

2. Lehre:

Marcion unterschied zwei Götter. Der Gott des AT ist der Schöpfer ("Demiurg") der Welt, die Mängel aufweist. Er ist der Gesetzgeber und heißt der "Gerechte". Dem steht der gute Gott, der Erlösergott, gegenüber, der sich erstmals in Jesus Christus offenbarte. Dieser erlöst durch den Tod Christi Glaubende aus der Macht des "Demiurgen". Da das AT nichts vom guten Gott weiß, darf es nicht nur nicht christologisch gedeutet werden, sondern muss ganz wegfallen. Weil der Schöpfergott nicht der gute Gott ist, wird das Geschaffene negativ eingestuft. Bei der marcionitischen Christologie handelt es sich um eine doketische Forderung (>Doketismus). Die asketischen Forderungen sind gegenüber der damaligen katholischen Kirche gesteigert (vermehrtes Fasten; auch von der Ehelosigkeit der Getauften ist die Rede). Marcion erwartete den Beginn des Reiches Gottes. Nach Marcions Lehre hat allein Paulus die Wahrheit verstanden. Deshalb muss nicht allein das AT wegfallen, sondern auch ein Großteil der ntl. Schriften. Maßstab dafür bilden die Paulusbriefe, ohne die Pastoralbriefe. Mit diesem Vorgehen schafft Marcion den ersten "ntl. Kanon". Dieser "gereinigte Kanon" umfasst zehn Paulusbriefe (der Hebr.brief wurde ihm zugeschrieben) und das Lukasevangelium, wobei Marcion auch diese von vermeintlichen "Verfälschungen" reinigte. Die Begründung für seinen "Kanon" lieferte Marcion in den "Antithesen", die nur durch die Widerlegung durch >Tertullian bekannt sind. Gnostiker ist Marcion wohl nicht gewesen. Zwar verbindet ihn die Lehre von zwei Göttern und der Welthass mit der Gnosis, die Ablehnung der mündlichen Tradition trennt ihn davon.

3. Weiterentwicklung:

Marcions Lehre wurde von Apelles durch gemeingnostische Anschauungen erweitert. Marcions Kirche stimmte mit der katholischen in Organisation und Praxis im Augenblick der Spaltung überein. Die Marcioniten bildeten eine Kirche mit bischöflicher Verfassung. Sie stellte eine starke Konkurrenz für die katholische Kirche dar, ging im 3. Jhd. zurück und war dann vor allem im Osten des Reiches. Die marcionitischen Gemeinden haben die Christenverfolgungen noch überstanden und zahlreiche Märtyrer hervorgebracht. Staatliche Ketzerverfolgungen nach der Konstantinischen Wende setzten den Marcioniten hart zu. Im Laufe der Zeit scheinen nicht wenige im >Manichäismus aufgegangen zu sein. Marcionitische Gemeinden bestanden noch bis in die Frühzeit des Islam, dem sie dann zum Opfer fielen. Durch Ablehnung der Position Marcions wurde die Kirche dazu genötigt, sich auf das wesentliche des Christentums zu besinnen. Sie grenzte sich stärker von der Häresie ab und festigte in diesem Zusammenhang Lehre und Organisation (Stärkung des Bischofsamtes). Aufgrund des "gereinigten Kanons" Marcions sah sich die Kirche gezwungen, ihrerseits sich Gedanken zur Kanonsbildung zu machen.

4. Wirkungsgeschichte:

Mit dem Aufhören der marcionitischen Gemeinden ist ihr Anliegen nicht beseitigt. Es begleitet vielmehr die Kirche als beständige Gefahr. Im theologischen Liberalismus und >Existentialismus wurde der biblische Kanon für prinzipiell offen angesehen, was die Möglichkeit gibt, sich einen eigenen Kanon nach subjektivem Empfinden zu schaffen. Ganz im Sinne Marcions erklärte Adolf v. Harnack: "Allein der Sohn, nicht der Vater gehört ins Evangelium."

S. zur Beurteilung: Spirituelle Interpretation; Bibel; Bibelkritik; Gnosis.

Lit.: EKL, 3. Aufl. (Neufassung), Bd. 2, Sp. 273 f.; ELThG, Bd. 2, S. 1295; RGG, 3. Aufl., Bd. 4, Sp. 740 — 742; TRE, Bd. 22 (1992), S. 89 — 101, Art. Marcion, Marcioniten, v. B. Aland; A. v. Harnack, Das Evangelium vom fremden Gott, 1921; K. Beyschlag, Marcion von Sinope, in: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 1, hg. v. M. Greschat, 1984, 69 — 81.

Walter Rominger