Liberale Theologie

1. Was bedeutet liberale Theologie / theologischer Liberalismus?

Die Bezeichnung Liberale Theologie geht auf den Ahnherrn historisch-kritischer Methode, J. S. Semler (1725-1791) und dessen Werk "Institutio ad doctrina Christianam liberaliter discendam" zurück und wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich.

Der theologische Liberalismus bildet neben der restaurativen und der Vermittlungstheolgie die dritte Hauptrichtung in der Theologie des 19. Jahrhunderts. Liberale Theologie war eine breite theologische Strömung vor allem im 19. Jahrhundert, die in sich nicht homogen war, leitete sie sich doch von unterschiedlichen philosophischen Strömungen her.

Sie ging aus Aufklärung und Idealismus hervor, in welchem bereits einige ihrer Positionen vertreten wurden, im Deismus Englands, in >Rousseaus "Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars" ("Emile", 1762), im Schrifttum >Lessings, z. B. in dessen Schauspiel "Nathan der Weise" (1779), in den von Lessing veröffentlichten Schriften des Reimarus. Wenig später steht als der Vater der Liberale Theologie >Schleiermacher ("Reden über die Religion", 1799). Trotz Unterschieden im einzelnen gibt es doch charakteristische Kennzeichen. Ganz allgemein kann sie bestimmt werden als eine Theologie, die sich bewusst von der Heiligen Schrift als alleiniger Offenbarungsquelle freimacht und von rein humanistischen und immanenten Voraussetzungen Theologie zu betreiben versucht. Sie will frei sein von dogmatischen und kirchlichen Traditionen; sie trennt Glaube und Wissen; nicht Glaubensinhalte sind entscheidend, sondern die Ethik. Sie macht den historischen Jesus, der hypothetisch erschlossen wird, zu ihrem Ausgangspunkt und sucht den natürlichen historischen Menschen Jesus hinter dem Gottmenschen Christus, weshalb die Leben-Jesu-Forschung für sie so wichtig wurde.

"Der Freie Protestantismus setzt an die Stelle des Mythos vom Gottmenschen Christus die geschichtliche Persönlichkeit Jesu, in dessen Leben, Wissen und Werk er die höchste Gottesoffenbarung erblickt" (K. Guggisberg, Der Freie Protestantismus, 1942, 114).

"Die geschichtliche Erforschung des Lebens Jesu ging nicht vom rein geschichtlichen Interesse aus, sondern sie suchte den Jesus der Geschichte als Helfer im Befreiungskampf vom Dogma" (A. Schweitzer, Geschichte der Leben Jesu Forschung, 4. Aufl. 1926, 4).

Das Bestreben der Leben Jesu Forschung ließ sich nicht realisieren, denn die Evangelien sind nachösterlich und die Verkündigung der frühen christlichen Gemeinde setzt freilich voraus, dass der Gekreuzigte der Auferstandene ist. Absicht Liberale Theologie. war nicht, den Glauben zu zerstören, obwohl sie faktisch so gewirkt hat, sondern sie wollte für den damaligen modernen Menschen den Glauben einsichtig machen und nahm dazu die damaligen humanistisch-philosophischen Gedanken und Traditionen als Interpretamente zu Hilfe. Bis zum Ersten Weltkrieg standen den "Liberalen" die sog. "Positiven", die an die Geschichtlichkeit des in den Evangelien Überlieferten festhielten, gegenüber. Durch den Ersten Weltkrieg erhielt die Liberale Theologie. mit ihrer optimistischen Sicht einen starken Dämpfer und wurde die Dialektische Theologie (Karl Barth) zur einflussreichsten theologischen Richtung, so dass die Gegenüberstellung "Liberale" — "Positive" nicht mehr aussagekräftig war und aufgegeben wurde.

2. Der Beginn der liberalen Theologie

Theologischer Liberalismus beruft sich zwar auf die von Luther geforderte Gewissensfreiheit, wiewohl sich dieser auf das im Wort Gottes gefangene Gewissen berief, während der theologische Liberalismus von der Aufklärung herkommend das autonome Gewissen voraussetzt. Die Kirchen der Reformation vertraten denn auch nicht den theologischen Liberalismus. Seine eigentlichen Vorläufer sind viel mehr die religiösen Humanisten im Zeitalter der Reformation, z. B. Erasmus und Castellio. Seine eigentliche Geschichte beginnt im 19. Jahrhundert. Dabei übernimmt er von der Aufklärung das große Vertrauen in die menschliche Vernunft, Optimismus und Fortschrittsglaube, vom Idealismus den Zug zur Innerlichkeit und die Freiheit der Religion. Theologischer Liberalismus setzt Bibel- und Dogmenkritik der Aufklärung fort, bejaht den Kritizismus Kants, die moderne Erfahrungstheologie Schleiermachers und die spekulative Geschichts- und Religionsphilosophie Hegels. Theologischem Liberalismus kommt das "Verdienst" zu, historisch-kritische Theologie entwickelt zu haben (Bibelkritik). Anliegen des theologischen Liberalismus ist es, das Auseinanderklaffen von christlicher Frömmigkeit und wissenschaftlichem Denken zu vermeiden, ein Anliegen, das später R. Bultmann und die neoliberale Theologie ebenfalls vertreten haben. In dreifacher Weise versuchte der theologische Liberalismus die Frage zu beantworten: Wie lässt sich die Wahrheit des christlichen Glaubens im modernen Denken begründen: in der Erfahrungstheologie, in der spekulativen und in der historisch-kritischen Theologie, wobei die einzelnen Versuche auch Verbindungen miteinander eingingen. Am Beginn liberaler Theologie steht D. F. E. Schleiermacher (1768-1834) mit seiner modernen Erfahrungstheologie. In seinen "Reden über die Religion" (1799) erscheint die "Religion" weder als "Wissen" noch als "Tun", sondern als "eigene Provinz im Gemüt", als "Gefühl", als "Anschauung des Universums". In seiner "Glaubenslehre" (ab 1821) ist Religion das "Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit". Gegenüber der bisherigen Dogmatik bedeutet dies eine Neuausrichtung. Denn die bislang "objektiven" Lehrsätze werden zu Glaubensaussagen religiöser Erfahrung. Der Einfluss Schleiermachers ist, wie an der ihm schon zugelegten Bezeichnung "Kirchenvater des 19. Jahrhunderts" deutlich wird, beträchtlich. Mit seiner modernen liberalen Erfahrungstheologie hat er auch die positive Erlanger Theologie, z. B. J. v. Hofmann, beeinflusst. Letzter bedeutender Vertreter liberaler Erfahrungstheologie war der Marburger Wilhelm Herrmann (1846-1922), der Lehrer Rudolf Bultmanns. Allerdings bezeichneten sich weder Schleiermacher noch die von Hegel abhängigen Theologen selbst als liberale Theologen. Diese Bezeichnung kommt im frühen 19. Jahrhundert von Spätrationalisten, die mehr politisch liberale Ideen haben, Kritik an der Hierarchie üben und individuelle Freiheit vertreten. Ebenso verwenden konservative Lutheraner im 19. Jahrhundert den Begriff Liberale Theologie., allerdings in polemischer Absicht, da sie in der liberalen Theologie eine politisch wie theologisch falsche Synthese von unkirchlichem Neuprotestantismus und parteiliberaler Reformpolitik sehen, die das Kaiserreich der Demokratisierung und dem Individualismus ausliefere und durch die Relativierung der Kirchen das noch tragende Fundament von Autorität und Sittlichkeit auflöse.

3. Drei Epochen liberaler Theologie im 19. Jahrhundert

Die erste Epoche ist durch radikale Kritik von Bibel und Dogma und Abhängigkeit von der spekulativen idealistischen Philosophie Hegels gekennzeichnet. Während die zweite Epoche unter dem Einfluss Albrecht Ritschls steht und philosophisch Kant verpflichtet ist, wird in der dritten Phase die religionsgeschichtliche Schule für die Liberale Theologie. wesentlich. Die einzelnen Epochen lassen sich jedoch nicht immer genau voneinander abheben, sondern durchdringen sich und gehen fließend ineinander über. Auch lassen sie sich nicht immer genau gegenüber der Vermittlungstheologie und gegenüber den Freigeistern abgrenzen.

3.1. Evangelien- und Dogmenkritik:

Eigentlicher Begründer dieser Richtung ist der Tübinger Ferdinand Christian Baur (1782-1860), bedeutendster Vorläufer der Kanon-Kritiker Johann Salomo Semler (1725-1791). Für Baur, den Begründer der sog. Tübinger Schule, sind "historisch" und "kritisch" identisch. Er will die historische Methode konsequent auch in der Bibelwissenschaft anwenden. Baur und die Tübinger Schule sind philosophisch von Hegel abhängig. Radikaler als Baur war dessen Schüler David Friedrich Strauß (1808-1874). In seinem "Leben Jesu" (1835) versteht er Christus als Einkleidung einer Christusidee. Für Strauß ist das Dogma keine göttlich geoffenbarte Wahrheit; vielmehr sei es geschichtlich entstanden und gehe seiner geschichtlichen Auflösung entgegen. "Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte." Zwar wurde Strauß von allen Seiten angegriffen; doch blieb seine Wirkung auf die Leben Jesu Forschung nachhaltig. Denn auch Spätere sind der Ansicht, dass sich der historische Jesus im Sinne moderner Geschichtsschreibung nicht aus den Evangelien erschließen lässt, so Franz Overbeck (1837-1905), William Wrede (1859-1960), Rudolf Bultmann ("Jesus", 1926), aber auch Albert Schweitzer (Geschichte der Leben Jesu Forschung, 1906), sondern der Jesus der Glaubens der nachösterlichen Gemeinde ist. Nicht übersehen werden sollte das Bemühen liberaler Bibelwissenschaft um saubere Quellen- und Literaturkritik (H. J. Holtzmann, 1832-1910). Die Evangelien- und Dogmenkritik blieb innerhalb der liberalen Theologie bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die beherrschende Richtung.

3.2. Ritschl, Herrmann, von Harnack

Während die liberale Tübinger Schule von Hegel beeinflusst war, war die Liberale Theologie. am ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von Kant geprägt. Großen Einfluss in der liberalen Theologie übte Albrecht Ritschl (1822-1889) aus, der mit der Tübinger Schule gebrochen hatte. "Beruf" bzw. Berufung Jesu hat zum "Zweck" bzw. Ziel die Gründung des Reiches Gottes, welches diesseitig als Endziel der Geschichte verstanden wird. Hierin besteht durchaus eine Affinität zum Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts und zu Ferdinand Christian Baur. Andererseits strebte Ritschl einen Ausgleich zwischen orthodoxer und liberaler Theologie an, wobei er selbst liberaler Theologe blieb. Wilhelm Herrmann (1846-1926) führte Ritschls Gedanken fort, setzte aber andere Akzente. In den Evangelien trete uns Jesus entgegen und werde seine Beziehung zu Gott für uns zur Offenbarung, bewirke den Glauben und führe zur sittlichen Freiheit. Fortführung dieses Ansatzes liegt bei Herrmanns Schüler Rudolf Bultmann und dessen Kerygma-Theologie vor, wonach die Theologie Bultmanns und seiner Schüler zu Recht als neoliberale Theologie bezeichnet wird: die Begegnung mit Gott schenkt nicht der "historische Jesus", sondern die Verkündigung Jesu, die ein neues Selbstverständnis schenkt, was Frei-Werden von der Welt (Entweltlichung) bedeutet ("Jesus Christus und die Mythologie", 1964, 93ff.). Zu den Schülern Ritschls gehörte auch Adolf von Harnack (1851-1930). Für diesen sind Dogmen eine Erscheinung der "Hellenisierung des Christentums". Das "Wesen des Christentums" besteht von Harnack zufolge in dem "schlichten" Evangelium des historischen Jesus, was dem modernen Gebildeten keine Verleugnung seiner wissenschaftlichen Überzeugung abverlange. Das Wesen des Christentums macht von Harnack zufolge der Gang des Evangeliums durch die Geschichte aus.

Das "Reich Gottes" ist religiöses Bewusstsein und die Bezeugung vom unendlichen Wert der Menschenseele. Aufgabe der Kinder des liebenden Vater-Gottes ist, den Willen Gottes zu tun. Daraus folgen für von Harnack christliche Kultur und soziale Gestalt der christlichen Gemeinschaft. Verwirklicht wurde dies im Kulturprotestantismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Als einzige wissenschaftliche Disziplin in der Theologie wollte von Harnack die Kirchengeschichte gelten lassen. Jesus wollte "selbständiges religiöses Leben entzünden und hat es entzündet; ja das ist seine eigentliche Größe, dass er die Menschen zu Gott geführt hat, auf dass sie nur ihr eigenes Leben mit ihm leben". Erlöser ist Jesus damit für Harnack nicht mehr.

3.3. Religionsgeschichtliche Schule

Die Religionsgeschichtliche Schule (Hermann Gunkel, 1862-1932; Wilhelm Bousset, 1865-1920; Wilhelm Heitmüller, 1869-1926; Johannes Weiß, 1863-1914; aber in gewisser Weise auch Ernst Troltsch, 1865-1923 und Albert Schweitzer, 1875-1965) stellt das Neue Testament in seine religiöse Umwelt hinein und erliegt damit allem Anschein nach der Gefahr, die Besonderheit der neutestamentlichen Botschaft zu verlieren. Die Religionsgeschichtliche Schule kann auch als Reaktion auf die zunehmend unfruchtbar werdende Literarkritik angesehen werden. Einen Fortschritt stellt sie dennoch nicht dar mit ihrer Forschung am Mythos, weil sie davon die Botschaft der Bibel nicht grundlegend abhob.

3.4. Troeltsch, Rothe, Schweitzer

Im weiteren Sinne sind auch Ernst Troeltsch und Albert Schweitzer der Religionsgeschichtlichen Schule zuzurechnen, während Richard Rothe (1789-1867) eher der Richtung Albrecht Ritschls zuzuzählen ist, trotz aller Selbständigkeit. Ernst Troeltsch (1865-1923) meint, aufgrund historischen Denkens sei die "Absolutheit des Christentums" zu verneinen. Für Troeltsch beginnt die "Moderne" nicht mehr mit der Reformation, sondern erst mit der Aufklärung. Den Spiritualismus betrachtet er als die "Geheimreligion" des modernen Gebildeten. Im übrigen vertritt Troeltsch die üblichen Positionen liberaler Theologie: ein diesseitig verstandenes Reich Gottes, die Subjektivität des Glaubens; er wird aber immer pessimistischer darin, die christliche Ethik könnte noch auf die Geschichte einwirken. In der Ablehnung der liberaler Theologie eigenen optimistischen Sicht mag sich deren Krise bereits andeuten, die dann vollends durch den Ersten Weltkrieg von einem Optimismus in Pessimismus umschlug. Troeltsch hat denn auch später die christliche Persönlichkeit hervorgehoben und blieb damit der Vorstellung eines subjektiven Christentums treu:

"Es bleibt dabei - und das ist das alles zusammenfassende Ergebnis — das Reich Gottes ist inwendig in uns."

Liberaler Theologie und darin durchaus der Religionsgeschichtlichen Schule ist Albert Schweitzer (1875-1965) zuzurechnen, wiewohl er gerade auch durch sein umfangreiches Werk "Geschichte der Leben Jesu Forschung" (1906) deren Krise diagnostizierte und mit zum Ende liberaler Theologie beigetragen hat. Denn Schweitzers "konsequente Eschatologie" stellt das liberale Jesusbild grundlegend infrage. Nach Schweitzer ist Jesus kein humaner Weisheitslehrer, sondern ein apokalyptischer Prophet. Das Urchristentum ist bestimmt von der realistisch verstandenen Naherwartung des Reiches Gottes. Damit wird das liberale Reich-Gottes-Verständnis, das dieses als innerweltlich und inwendig im Menschen versteht, infrage gestellt. Für Richard Rothe (1789-1867) beinhaltet Liberale Theologie. außer dem Kampf gegen Dogmenzwang, Lehrautorität, Herrschaft der Kirche über die Schule und religiöse Überhöhung der Politik auch eine sittlich-religiöse Durchdringung der Welt.

Es waren weder A. Ritschl und seine Schüler, noch die Religionsgeschichtliche Schule und die Autoren der als liberal geltenden Zeitschrift Martin Rades (1857-1940) "Die Christliche Welt", die sich selbst als "liberale Theologen" bezeichneten. Diese Bezeichnung wurde ihnen von konservativen Theologen vor dem Ersten Weltkrieg zugelegt. Hingegen machten die Tübinger Schule F. Chr. Baurs, der "Deutsche Protestantenverein" und die "Protestantische Kirchenzeitung" Liberale Theologie. zum Kampfbegriff gegen das herrschende Bündnis von lutherisch-konfessioneller Orthodoxie und restaurativem Staat und betonten dabei die Übereinstimmung zwischen kirchlichem und politischem Liberalismus.

4. Krise und Ende des Altliberalismus

Die Krise liberaler Theologie deutete sich bereits bei Ernst Troeltsch und Albert Schweitzer an. Kritisiert wurde Liberale Theologie. jedoch auch schon früher und zwar aus dem Liberalismus selbst, etwa durch David Friedrich Strauß, Jakob Burckhardt und Franz Overbeck, wie auch von radikalen Geistern, etwa Bruno Bauer (1809-1882) und freireligiösen Bewegungen wie den Lichtfreunden und dem Monistenbund. Die nicht allein durch Albert Schweitzer, sondern auch durch Martin Kähler und William Wrede erschütterte Leben Jesu Forschung wird durch die Formgeschichte (Martin Dibelius) weiter infrage gestellt, als Subjektivismus erkannt und schließlich durch die Formgeschichte abgelöst. In den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges erwies sich Liberale Theologie. als nicht tragfähig und zerbrach. Optimismus und Fortschrittsglaube erweisen sich nicht als beständig. In der Liberale Theologie. hatten vor allem Exegese und Kirchengeschichte dominiert und den Historismus und Positivismus gefördert, während die systematische Theologie vernachlässigt wurde. Zudem hatte Liberale Theologie. nicht die Hoffnung erfüllt, breite Kreise des Protestantismus zu erreichen; am ehesten erreichte sie noch das Bildungsbürgertum. Die offizielle Kirche hatte den politischen wie theologischen Liberalismus abgelehnt. In einzelnen Fällen wurden liberale Pfarrer mit Lehrzuchtverfahren bedacht (>Apostolikumstreit) (Jatho, Traub, Leimbach, Schrempf). Da die Kirche jedoch zur Ausbildung an den theologischen Fakultäten liberale Dozenten gewähren ließ, war dieses Verhalten in gewisser Weise inkonsequent.

Die Kritik der frühen >Dialektischen Theologie (Karl Barth) setzte u. a. an der Vernachlässigung der Systematik an und an der Verbindung von Christentum und Kultur (Kulturprotestantismus). Eine Vorherrschaft moderner Wissenschaft, vor allem der >Historismus wurde aufgegeben. Bei der Dialektischen Theologie wurde von einer Neuorthodoxie / Neoorthodoxie gesprochen. Während des Kirchenkampfes im Dritten Reich bekam das alte Bekenntnis wieder Bedeutung. Es herrschte allgemein eine antiliberale Haltung. Zwar fanden einige liberale Theologen den Weg zur Bekennenden Kirche. Da bei dieser aber im großen ganzen orthodox gedacht wurde, war dem Liberalismus der Weg dahin im großen und ganzen verschlossen. Nach 1945 herrschte in den Kirchen selbst zunächst ein eher restaurativer Zug, an den evangelisch-theologischen Fakultäten dagegen schnell der Neoliberalismus, der von R. Bultmann und dessen Schülern vertreten wurde durch deren geschickte "Fakultätspolitik" herrschend wurde und dann auch auf die Gemeinden übergriff.

5. Neue liberale Theologie

Gegenwärtig ist Liberale Theologie. nicht allein für ein bestimmtes Bildungsbürgertum ansprechend, sondern scheint als pragmatisch verstandene Liberale Theologie. die allgemein herrschende theologisch-kirchliche Richtung geworden zu sein. So zeigt z. B. Trutz Rendtorff, dass der Neoliberalismus kein Gegensatz mehr zur herrschenden Kirchentheologie ist. T. Rendtorff selbst ist einer der am maßgeblichsten auf Kirchentheologie einwirkenden akademischen Theologen. Möglicherweise lässt sich der Wandel von einer nach dem Kriege eher restaurativen Kirchentheologie hin zu einer stark neoliberalen zum Teil mit der Annahme erklären, dass, wenn eine protestantische Kirche nicht hinter dem demokratischen Staat und vor allem hinter einer pluralistischen Gesellschaft zurückbleiben will und ein Teil dieser pluralistischen Gesellschaft sein will, sie liberaler Theologie zu bedürfen scheint. Die neue Liberale Theologie. hat aber allem Anschein nach nicht mehr dieses Maß an Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit. Sie scheint dafür aber mehr pragmatisch orientiert zu sein als die alte. Doch wurde die neue Liberale Theologie. vorbereitet. Emanuel Hirsch (1888-1972) trat mit seiner mehrbändigen Theologiegeschichte einer Ächtung des Neuprotestantismus, wie dies durch K. Barth geschah, entgegen. Paul >Tillich (1886-1965) hat durch seine ebenfalls mehrbändige Systematische Theologie das systematische Defizit liberaler Theologie aufzuheben versucht. R. Bultmann hat in seinem umstrittenen Programm der >Entmythologisierung liberale Fragen in veränderter Form wieder aufgenommen und ist damit bei liberaler Theologie geblieben, wo er auch seinen Ausgangspunkt nahm, auch wenn er selbst dies anders eingeschätzt hat. In der (deutschsprachigen) Schweiz hat sich recht früh eine neue Liberale Theologie. herausgebildet und zwar aufgrund intensiver Rezeption der ethischen Theologie Albert Schweitzers, die dessen Schüler Martin Werner, Fritz Buri und auch Ulrich Neuenschwander ("Die neue liberale Theologie", 1953) vertraten, die sich auch durch den Philosophen Karl Jaspers (1883-1969) anregen ließen (Konsequente Eschatologie).

6. Theologischer Liberalismus außerhalb des deutschsprachigen Raums und im Katholizismus

Einfluss gewann in den USA der Unitarismus, der die Trinitätslehre ablehnt und die volle Menschlichkeit Jesu betont. Er ist vom Deismus geprägt und verbindet Religion und Moral. Tugendhafter Lebenswandel ist demnach das Wichtigste bei dieser religiösen Richtung. Die Willensfreiheit wird gelehrt und die Sünde moralisch verstanden, so dass von der Möglichkeit menschlicher Sühne der Sünden ausgegangen wird. Auch die Social-Gospel-Bewegung wird weithin von liberalen Ideen bestimmt. Während sich der europäische L. durch Profillosigkeit auszeichnet, trifft dies für den amerikanischen nicht zu. Von liberal-protestantischer Tradition bestimmt ist der Protestantismus Frankreichs, der Niederlande, der Tschechoslowakei, ebenso der Schwedens, wo Erzbischof Nathan Söderblom (1866-1931) für freie religionswissenschaftliche Forschung sowie für die Einigung des Weltprotestantismus eintrat, womit durch den Ökumenischen Rat der Kirchen ein wichtiger Schritt erfolgt ist. In Norwegen spaltete sich 1908 in Oslo die pietistisch-konservativ ausgerichtete Gemeindefakultät von der Osloer Fakultät ab und wurde die bedeutendere. Liberale Traditionen im Katholizismus sind in Frankreich, den Niederlanden und Belgien vorhanden. Ideen von Vertretern eines liberalen Katholizismus, z. B. Alfred Loisy (1957-1940), versuchte Papst Pius X. (1835-1914, Papst 1903-1914) durch Antimodernistenmaßnahmen zu unterdrücken. Ein Teil dieser Ideen wurde jedoch durch das Zweite Vatikanische Konzil kirchenoffiziell aufgenommen.

7. Bleibende Folgen des theologischen Liberalismus

Wie sich am theologischen Neoliberalismus zeigt, hat der Altliberalismus bleibende Folgen hinterlassen, die allem Anschein nach als unaufgebbar angesehen werden:

die historisch-kritische Methode, die Verbindung von Theologie und allgemeinem Geistesleben (Kulturprotestantismus), die Forderung nach religiöser Freiheit, der Versuch, dem modernen Menschen Glaubensforderungen und sperrige Aussagen von Schrift und Dogma zu ersparen (Bultmanns Entmythologisierungsprogramm, aber auch schon v. Harnack) und die moderne Erfahrungstheologie (Schleiermacher). Eines der Anliegen, wenn nicht das Hauptanliegen liberaler Theologie, hat sich auch in weiten Teilen der sog. positiven Theologie durchgesetzt, die Anwendung historisch-kritischer Methode in Exegese, Kirchen- und Dogmengeschichte.

8. Beurteilung der liberalen Theologie

Wie sich zeigte, ist der theologische Liberalismus nicht einheitlich, sondern zerfällt in verschiedene Strömungen und Epochen. Dennoch weist er einige Gemeinsamkeiten bei aller Verschiedenheit auf. Eines seiner Grundprinzipien ist, keine festen Glaubenswahrheiten mehr zu kennen, sondern diese jeweils den jeweiligen Umständen entsprechend neu zu formulieren. Unveränderbare Glaubenswahrheiten kennt der theologische Liberalismus nicht. Deshalb zeichnet ihn eine kritische Haltung gegenüber der dogmatischen und kirchlichen Tradition aus. Angestrebt wird ein undogmatisches Christentum. Theologischer Liberalismus will Glaube und Vernunft versöhnen, so dass sie sich nicht widersprechen. Zumeist vertritt Liberale Theologie. eine revelatio generalis; Offenbarung geschieht damit nicht allein durch das Wort Gottes, sondern auch in Natur, Geschichte, Selbstbewusstsein. Abgelehnt wird eine objektive Erlösungslehre.

Die biblisch-reformatorische Rechtfertigungslehre wird durch eine ethische ersetzt und damit auch das Sündenverständnis moralistisch erweicht. Betonte traditionelle Theologie die Sündhaftigkeit des Menschen, so wird liberaler Theologie die Würde des Menschen wichtig. Zum optimistischen Menschenverständnis tritt ein ebensolches für die Geschichte. Aufgrund des Optimismus und Fortschrittglaubens wird ein weltgestaltender Glaube vertreten. Ziel ist nicht mehr das von Gott heraufgeführte Reich Gottes mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde (Jes 65,17: 66,22; 2. Petr 3,13; Offb 21,1), sondern das Reich Gottes soll sich innerweltlich durch menschliche Gestaltung verwirklichen. Zwar werden Institutionalismus (Kirche als Institution), Klerikalismus und Konfessionalismus abgelehnt, doch gibt es theologischen Liberalismus nicht allein als Privatchristentum, sondern auch in Gruppen und Vereinen (Protestantenverein, Schweizerischer Verein für freies Christentum). Aufgeschlossener als die kirchliche Theologie zeigte sich der theologische und kirchliche Liberalismus meist für die soziale Frage, die ökumenische und die Friedensbewegung. Dem Katholizismus gegenüber fühlt sich der theologische Liberalismus überlegen. Maßgebliche Glaubensinhalte sind im theologischen und kirchlichen Liberalismus aufgegeben. Seine Orientierung ist am (natürlichen) Menschen und damit innerweltlich. Auf Dauer wird es nicht gelingen, Theologie und Kirche bei Vorherrschen dieser theologisch-kirchlichen Richtung unbeschadet zu erhalten. Die Entwicklung der theologischen Fakultäten und Ausbildungseinrichtungen und Kirchen, bei welchen Liberale Theologie. mit ihrem (inzwischen) meist inhärenten theologisch-kirchlichen Pragmatismus vorherrschen, ist hierfür ein Beleg.

S. auch: Liberalismus; Bibelkritik; >Entmythologisierung; >Genitiv-Theologien; Konsequente Eschatologie; u.a.

Lit.: EKL, 3. Aufl., Bd. 3, Art. Liberale Theologie, Sp. 86-98, v. F. W. Graf; Evangelisches Gemeindelexikon, liberale Theologie, S. 327-329, v. M. Roensch; siehe auch: Theologie, Neuere, S. 503-507, v. H. Egelkraut; ELThG, Bd. 2, Liberale Theologie, S. 1238-1240, v. F. Flückiger; EStL, 2. Aufl. Art. Liberalismus, III. der Liberalismus in Theologie und Kirche, Sp. 1487-1490; RGG, 3. Aufl., Bd. 4, Sp. 351-355, Art. Theol. und kirchl. Liberalismus, v. H. Grass; U. Neuenschwander, Die neue liberale Theologie, 1953; W. Nigg, Geschichte des religiösen Liberalismus, 1937; A. Schweitzer, Geschichte der Leben Jesu Forschung, div. Aufl.

Walter Rominger


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