Kirchenreform


1. Die gegenwärtige kirchliche Lage

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.Die evangelischen Kirchen in vielen Ländern haben sich heute sehr weit von ihrer biblisch-reformatorischen Grundlage entfernt. Gewiss ist die evangelische Kirche eine allezeit zu reformierende Kirche (ecclesia semper reformanda). Doch heute ist der Graben zur biblisch-reformatorischen Norm sehr gross geworden. Eine Reformation ist daher — innerhalb des Protestantismus! — notwen-diger denn je. Nachfolgend möchte ich anhand der dogmatischen Hauptpunkte (loci) einen systematischen Überblick über die gravierendsten Abweichungen geben.

Nach biblisch-reformatorischer Sicht ist die Kirche eine Schöpfung des Wortes Gottes (creatura verbi Dei). Martin Luther schreibt: "Wo das Wort ist, da ist die Kirche" ("Ubi est verbum, ibi est ecclesia"; WA 39/2, 176). Im Augsburger Bekenntnis wird Kirche definiert als "Versammlung der Gläubigen, in der das Evangelium rein gelehrt und die Sakramente dem Evangelium gemäss verwaltet werden" (CA 7). Auch Johannes Calvin führt aus: "Überall, wo wir wahrnehmen, dass Gottes Wort lauter (rein) gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden, lässt sich auf keinerlei Weise daran zweifeln, dass wir eine Kirche Gottes vor uns haben" (Institutio Christianae Religionis IV,1,9). Kirche ist eine Schöpfung des Wortes Gottes. Und dieses Wort ist ihr in einzigartiger und nicht zu überbietender Weise in der Bibel gegeben. Was geschieht aber, wenn der Kirche das Wort geraubt wird oder wenn sie sich selber dieses Wortes beraubt? Das ist keineswegs nur eine rhetorische Frage. Denn in genau dieser Situation des weithin verloren gegangenen Wortes Gottes befindet sich die evangelische Kirche heute. Beginnend mit dem Zeitalter der Aufklärung und einer sich autonom gebärdenden Vernunft versuchte die Bibelkritik, sich des Wortes Gottes zu bemächtigen. Indem dieses — gegen seinen Selbstanspruch (vgl. z.B. Joh 17,17; 1. Tim 3,16; 2. Petr 1,20 f.) — wie ein bloßes Menschenwort behandelt wurde, büßte es für viele seine Autorität ein. Der Kirche wurde damit ihre Grundlage und Widerstandskraft gegen den Zeitgeist und die damit einhergehenden Ideologien weitgehend genommen. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf hat gedichtet: "Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten — worauf soll der Glaube ruh`n? Mir ist`s nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun." Dies lässt sich auch in bezug auf die Kirche sagen: Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten — worauf soll die Kirche ruh`n? Vielen ist es nicht bewusst, dass die Bibelkritik letztlich einer Haltung des Skeptizismus (um nicht zu sagen: des Unglaubens) entstammt. Die Fähigkeit Gottes, sich — etwa durch Zukunftsprophetien — zu offenbaren und Wunder zu tun, wird für unmöglich bzw. mit der autonomen Vernunft nicht vereinbar erklärt. Diese Haltung des Skeptizismus steht jedoch im Gegensatz zum durchgehenden Selbstanspruch der Heiligen Schrift. "Gelobt sei Gott der Herr, der Gott Israels, der allein Wunder tut", lesen wir z.B. in Psalm 72,18.

Die falsche, vom Skeptizismus geprägte Hermeneutik, wie sie sich etwa grundlegend in der historisch-kritischen Methode manifestiert, beruht folglich auf einem falschen Gottesbild. Sie stellt sich Gott als machtloses Prinzip — gewissermaßen "ohne Arme und Beine" — vor, das nicht in den Weltenlauf eingreifen kann. Die Schriftfrage ist somit im Grunde eine Gottesfrage. Unser Verständnis, das wir von Gott haben, entscheidet über unser Verhältnis zur Heiligen Schrift.

Mit der Gotteslehre hängt die Christologie (Lehre von Christus) untrennbar zusammen. Hatte in altkirchlicher Zeit der als Ketzerei verurteilte Arianismus die ewige Gottheit Jesu Christi hinterfragt, Christus aber als übernatürlichen Logos (Wort Gottes) anerkannt, so stehen wir heute Irrlehren außerhalb und innerhalb der Kirchen gegenüber, im Vergleich zu denen der Arianismus fast schon als orthodox (rechtgläubig) gelten könnte. Abgesehen von ganz radikalen Christusgegnern, welche die Existenz Jesu Christi überhaupt bestreiten, wird ihm von vielen anderen nur noch sein Menschsein zuerkannt. Jesus sei ein Sozialrevolutionär, Befreier, Friedensprediger, Essener, Vorbild und ähnliches gewesen, aber keineswegs der Sohn Gottes bzw. Gott in der zweiten Person der Trinität (Dreieinigkeit). Solche Ansichten werden im Raum der evangelischen Kirche nicht nur geduldet, sondern von einflussreichen Theologen auch massiv vertreten. In der Heiligen Schrift wird demgegenüber deutlich betont: "Das ist Gottes Zeugnis, dass er Zeugnis gegeben hat von seinem Sohn. Wer an den Sohn Gottes glaubt, der hat dieses Zeugnis in sich. Wer Gott nicht glaubt, der macht ihn zum Lügner; denn er glaubt nicht dem Zeugnis, das Gott gegeben hat von seinem Sohn ... Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht" (1. Joh. 5,9 ff.).

Mit der Entleerung der Gotteslehre und Christologie geht eine Entleerung der Hamartiologie (Lehre von der Sünde) und Sote-riologie (Lehre vom Heil) einher. Wo man Gottes Wort kritisiert, wo man Gott und seinem Sohn Jesus Christus keine übernatürliche Wirksamkeit zutraut, da bleibt der Mensch mit sich allein. Da bleibt ihm nur übrig, auf seinen angeblich "guten Kern" zu vertrauen, seine sündhafte Verdorbenheit und Verlorenheit zu leugnen und sich krampfhaft um seine >Selbsterlösung zu bemühen. Solche teils offenen, teils versteckten Selbsterlösungs-Ideologien haben in großer Zahl in die Kirchen Einzug gehalten. Als Beispiele seien genannt: eine feministische Blut-"Theologie", die das Heil aus den Kräften der Frau und ihrem Menstruationsblut anstatt von Jesus Christus erwartet (Feminismus); eine Befreiungs- und Revolutions-"Theologie", die ihre Hoffnung auf die Kraft gesell-schaftlicher Gruppen und deren revolutionären Kampf richtet (>Genitivtheologien); eine Psycho-"Theologie", die Heilung aus der Kraft des menschlichen Selbst und entsprechenden Techniken erhofft, welche der Selbst-Verwirklichung dienen sollen (Eugen >Drewermann). Allen solchen Bestrebungen ist das Wort des Apostels Petrus entgegenzuhalten, das er im Blick auf Jesus als den lebendigen Sohn Gottes dem Hohen Rat in Jerusalem zugerufen hat: "In keinem anderen ist das Heil, auch ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden" (Apg. 4,12).

Wo der Glaube an Gott und seine Macht verloren geht, kommen die Dämonen durch die Hintertür herein. Und so sind auch auf dem Gebiet der >Ethik Entwicklungen zu beobachten, die in ihrem Ausmaß und ihrer Wucht nur als dämonisch inspiriert beurteilt werden können. Ein Dammbruch ungeahnten Ausmaßes ist in den letzten Jahrzehnten in Gesellschaft und Kirche vieler Länder erfolgt. Zusammenfassend seien nur genannt: der ständig abnehmende Widerstand gegen die Kindestötung im Mutterleib, insbesondere in den evangelischen Kirchen (>Abtreibung); die wachsende Duldung (und zum Teil bereits "Segnung") homosexueller Lebensformen (>Homosexualität); das weitgehende Fehlen klarer kirchlicher Stellungnahmen zu "freier Liebe", unehelichem Zusammenleben, >Pornographie, Polygamie, Inzest und >Euthanasie. Deutlich warnt die Heilige Schrift vor solchen Verirrungen und ihren Folgen (Röm. 1,26-32; 1. Kor. 6,9-11). Anstatt den — etwa von sexueller Perversion — betroffenen Menschen zu helfen und sie auf die heilende und befreiende Liebe Gottes hinzuweisen, sind die evangelischen Kirchen in einer leider wachsenden Zahl von Ländern dabei, deren Perversion gutzuheißen und sie in ihrer Sünde und Verlorenheit zu lassen. Eine solche Haltung — das muss klar gesagt werden — ist selber "pervers". Sie lässt sich nur als Zeichen endzeitlicher Verblendung und Gerichtsreife verstehen. Zieht man zudem die gerade in Homosexuellen-Kreisen grassierende Aids-Seuche in Betracht, dann wird man unweigerlich an folgendes Wort aus der Heiligen Schrift erinnert: "Und die übrigen Leute, die nicht getötet wurden von diesen Plagen, bekehrten sich doch nicht von den Werken ihrer Hände, dass sie nicht mehr anbeteten die bösen Geister und die goldenen, silbernen, ehernen, steinernen und hölzernen Götzen, die weder sehen noch hören noch gehen können, und sie bekehrten sich auch nicht von ihren Morden, ihrer Zauberei, ihrer Unzucht und ihrer Dieberei" (Offb. 9,20 f.).

In diesem Zitat ist von der Unzucht, aber auch von den "bösen Geistern" die Rede, denen sich Menschen in der endzeitlichen Situation zunehmend öffnen. Betrachten wir nun das Gebiet der Pneumatologie (Lehre vom >Heiligen Geist), dann sehen wir, dass diese bösen, dämonischen Geister immer frecher in den Raum der Kirche eindringen. Am gefährlichsten, weil verführerischsten dürfte die Behauptung sein, dass der Geist Gottes in allen Religionen wirke. Der Heilige Geist als die dritte Person der Dreieinigkeit sei geradezu identisch mit den Geistern des Hinduismus, Shintoismus, der afrikanischen und indianischen Stammesreligionen. Und auch in den Religionen Mohammeds, Buddhas, Zarathustras und vieler anderer Menschen offenbare sich derselbe göttliche Geist, der im Judentum und Christentum verehrt werde. Dass solche Ansichten mitten im Raum der Kirchen Fuß gefasst haben, belegen zahlreiche gemeinsame Konferenzen und "Gebetstreffen" mit Angehörigen anderer Religionen (Ökumene der Religionen; Assisi). Die Heilige Schrift aber warnt deutlich vor jeder Form der Religionsvermischung: "Was die Heiden opfern, das opfern sie den bösen Geistern und nicht Gott. Nun will ich nicht, dass ihr in der Gemeinschaft der Dämonen seid" (1. Kor. 10,20). "Wie stimmt Christus mit Beliar überein? Oder was für ein Teil hat der Gläubige mit dem Ungläubigen? Was hat der Tempel Gottes gemeinsam mit den Götzen? ... Geht aus von ihnen und sondert euch ab!" (2. Kor. 6,15 ff.).

Nach allem Gesagten verwundert es nicht, dass auch in der Ekklesiologie (Lehre von der Kirche) klare biblische Maßstäbe verloren gegangen sind. Das zeigt sich vor allem darin, dass Kirche in vielen Staaten kaum noch von "Welt" unterscheidbar ist. Je "zeitgemäßer" und "weltoffener" die Kirche jedoch sein will, desto mehr steht sie in der Gefahr, ihr eigenes Wort zu vergessen, das sie einer weithin atheistischen und verunsicherten Bevölkerung schuldet. Wer sich Tagesparolen der Politik von Links und von Rechts zum Programm macht, verlernt allzu leicht das Hören auf das ganz andere Wort Gottes. Insbesondere die evangelische Kirche ist heute bedroht von der Verweltlichung, ihrer Auflösung in die "Welt" hinein. Sie macht sich dadurch selber überflüssig, was die hohen Austrittszahlen — etwa in mehreren europäischen Staaten — drastisch belegen.

Was schließlich die Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) angeht, so wurde die Wiederkunft Christi schon längst durch den Theologen Rudolf Bultmann und seine zahlreichen Schüler auf den Kanzeln und Kathedern aus dem Glaubensbekenntnis "gestrichen". An die Stelle der Wiederkunft Jesu Christi und die Aufrichtung des messianischen Friedensreiches durch den Herrn ist für viele dessen schwärmerische Vorwegnahme in Gestalt eines durch eigene menschliche Kraft zu erringenden irdischen Friedensreiches getreten (proleptischer Messianismus). Zahlreiche Aktionen und Konferenzen im evangelischen Bereich (z.B. der "Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung") sind von diesem Denken geprägt. Man merkt dabei nicht, dass sündhafte Menschen niemals dauerhaften Frieden erringen können, so schön dies nach humanistischer Vorstellung auch wäre. Solche Utopien führen — trotz aller vordergründig guten Ziele — geradewegs zum Scheinfriedensreich des Antichristen.

Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Kirche immer näher an die Welt (verstanden als gottfeindlicher "Kosmos") herangerückt ist — ja, sie ist in verschiedenen Staaten sogar noch weiter gegangen als manche "weltlichen" Politiker. So warten manche (konservativen) Politiker auf ein helfendes Wort der evangelischen Kirche — etwa in Fragen der >Abtreibung, der >Euthanasie und der >Homosexualität — und werden von dieser allein gelassen. Die Voraussage bewahrheitet sich: "Das Gericht beginnt am Hause Gottes" (1. Petr. 4,17). Eine neue Reformation tut not.

2. Wie eine Reformation aussehen könnte

Zur Situation in der Zeit vor der Reformation Martin Luthers, Huldreich Zwinglis und Johannes Calvins gibt es einige Ähn-lichkeiten. Auch damals war die Kirche — die römisch-katholische Kirche — verweltlicht. Die Bibel war durch das Papsttum weithin außer Kraft gesetzt. Außer dem Klerikerstand hatte so gut wie niemand Zugang zu ihr. Die Welt war durch Luxus und Pomp in die Kirche eingedrungen. Der Ablass war ein Symptom für billige Gnade und Geldmacherei. Kirche und Staat waren weithin identisch durch Kirchenfürsten und Papstherrschaft. Das Tausendjährige Reich war in Gestalt der katholischen Kirche "vorweggenommen" worden. Die Missstände waren gravierend und eine Reformation unausweichlich. Heute ist es — inzwischen in der evangelischen Kirche, aber auch in der katholischen — noch viel schlimmer geworden. Die Glaubensfundamente wurden total ausgehöhlt, wie obige Beispiele zeigen. Sicherlich gibt es mancherorts noch intakte Gemeinden. Aber die neue Situation, die eingetreten ist, sieht so aus, dass vor allem seit den 90er Jahren von Kirchenleitungen und Synoden in vielen Staaten Beschlüsse gefasst wurden, die in klarem Widerspruch zu den Geboten Gottes stehen, etwa die Tolerierung der Tötung des Kindes im Mutterleib und die Unterstützung homosexueller und radikalfeministischer Bewegungen.

Wie könnte eine Reformation aussehen? Sie müsste zuallererst zur >Buße, zur Umkehr zum Herrn Jesus Christus und seinen Geboten rufen. Wir erinnern uns, wie die erste der 95 Thesen Martin Luthers lautete: "Da unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: Tut Busse, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Mt. 4,17), wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Busse sein sollte. Die Reformation Martin Luthers war eine Bußbewegung. Sie begann mit der Rückkehr zum Worte Gottes und der in ihm enthaltenen zentralen Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden. Auch heute müsste eine Reformation mit der Rückkehr zum Wort Gottes beginnen und zur Buße, zum Nachdenken über den bisherigen Weg und zu einer radikalen Umkehr führen. Nur dadurch würde die Kirche wieder "creatura verbi", Schöpfung des Wortes Gottes im eigentlichen Sinne. Martin Luther definiert "Buße" folgendermaßen:

"Also bedeutet Buße oder metanoia ein Wiederzurechtkommen und die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit, nachdem man die Strafe erlitten und den Irrtum eingesehen hat. Das aber kann unmöglich ohne Änderung des Sinnes und der (Eigen-) Liebe geschehen" (Brief an Staupitz vom 30. Mai 1518; zitiert nach: Luther Deutsch, hg. v. K. Aland, Bd. 2: Der Reformator, Göttingen 1991, S. 29).

Ähnlich schreibt Johannes Calvin:

"Das Wort `Buße` ist bei den Hebräern von `Umkehr` oder `Rückkehr`, bei den Griechen von Änderung des `Sinnes` oder `Änderung eines Ratschlusses` hergenommen; beiden sprachlichen Ableitungen entspricht die Sache durchaus: Buße ist ja im wesentlichen darin beschlossen, dass wir von uns selbst auswandern und uns zu Gott kehren, dass wir den vorigen Sinn ablegen und einen neuen annehmen ... Buße ist die wahre Hinkehr unseres Lebens zu Gott, wie sie aus echter und ernster Gottesfurcht entsteht; sie umfasst einerseits das Absterben unseres Fleisches und des alten Menschen, anderseits die Lebendigmachung im Geiste" (Institutio Christianae Religionis III,3,5).

Eine Reformation müsste also eine Bußbewegung sein. Und sie müsste sich heute wie damals auf die "vier sola" konzentrieren: solus Christus, sola scriptura, sola gratia, sola fide (allein Christus, allein die Heilige Schrift, allein aus Gnaden, allein durch den Glauben).

"Allein die Heilige Schrift" — und zwar ohne Abstriche oder Zusätze, ohne eine zusätzliche, ihr neben- oder gar übergeordnete Lehrtradition, ohne Angleichung an den Zeitgeist, ohne die heute beherrschend gewordene historisch-kritische Bibelauslegung, die ihren Ursprung in der Aufklärung hat. Luther sagte: "Gottes Wort soll Artikel des Glaubens stellen und sonst niemand, auch kein Engel." "Wir müssen die Propheten und Apostel lassen auf dem Pult sitzen und wir hienieden zu ihren Füssen hören, was sie sagen, und nicht sagen, was sie hören müssen." "Die Schriften (der Bibel) sind die Altäre Christi, auf denen wir uns in seinen Gehorsam opfern müssen." ,,Ich habe nicht mehr denn dieses Buch. Damit soll ich mich wehren, und ich habe keinen anderen Trost als dieses Buch von Papier."

"Allein Jesus Christus" — und zwar Jesus, wie ihn die Bibel bezeugt, Jesus als der ewige, menschgewordene Sohn Gottes, Jesus ohne irgend jemanden neben ihm, ohne die Heiligen, ohne die ,,Mutter Gottes" und "Himmelskönigin", Jesus ohne Zusatz wie ,,Jesus und ..." oder "Jesus ja, aber auch..." Luther sagte: "Ich weiss nichts und will nichts wissen in göttlichen Sachen ohne allein von meinem Herrn Christo, der soll allein alles sein, was meine Seligkeit betrifft und zwischen Gott und mir zu handeln ist." "Er ist alles, die erste, mittlere und letzte Stufe an der Leiter zum Himmel. Denn durch ihn müssen wir anfangen, fortfahren und hindurch zum Leben kommen." "Der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben."

"Allein die Gnade" — und zwar ohne ein wenig "Mithelfen" unsererseits, ohne verdienstliche gute Werke, ohne Selbsterlösungsbemühungen jedweder Art. Luther sagte: "Mit größtem Eifer trachtete ich darnach, durch eigene Werke gerecht zu werden ... Ich konnte Christus nicht sehen, weil man mich gelehrt hatte, Vergebung der Sünden und Heil durch unsre Werke zu erhoffen." "Staupitz (der Seelsorger in Luthers jungen Jahren bei dessen innerem Ringen) tröstete mich mit diesen Worten: Siehe Christi Wunden und Blut, für dich vergossen, an."

"Allein durch den Glauben" — und zwar durch das vertrauensvolle Ergreifen dessen, was Jesus am Kreuz für uns getan hat, empfangen wir ohne Verdienst, ohne Gegenleistung die Gnade der Sündenvergebung, die uns zu einem neuen Leben in der Nachfolge Christi (mit den daraus folgenden guten Werken!) befähigt. Luther sagte: "Der Glaube ist die Art, dass er nicht empfindet, sondern die Vernunft fallen lässt, die Augen zutut und sich schlicht ins Wort ergibt und selbigem nachfolgt durch Leben und Sterben" (Lutherzitate nach: G. Buchwald, D. Martin Luthers Leben und Lehre in Worten aus seinen Werken und Briefen, Gütersloh 1947).

Diese Grunderkenntnisse der Reformation sind unvermindert aktuell. So wird auf die Gegenwart bezogen in den neuen 95 Thesen von 1996 festgestellt:

"Allein Jesus Christus soll der Herr sein, nicht andere Herren, nicht Religionsstifter oder Ideologen. Allein das Wort Gottes, das in der Bibel niedergelegt ist, soll gelten, nicht andere Worte, Offenbarungsquellen und Ideologien. Allein aus Gnaden und durch den Glauben werden wir gerettet, nicht durch Selbsterlösungs-Techniken, Wiederverkörperungs-Vorstellungen und den frevelhaften Versuch, den umfassenden Heilszustand (Schalom) des Reiches Gottes durch die schwärmerische Erwartung eines aus eigener menschlicher Kraft errichteten Weltfriedensreiches vorwegzunehmen" (Reformation heute, Thesen 52-54).

Das wesentliche reformatorische Anliegen wurde im 20. Jahrhundert in der Barmer Theologischen Erklärung aufgegriffen. Der erste Artikel lautet:

"Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen."

An erster Stelle sollte die Buße und Einheit der Gläubigen stehen. Wo soll eine Reformation beginnen, wenn nicht bei uns selber, in unserem eigenen Herzen? Wir brauchen eine "Reformation der Herzen". Lassen wir uns daher reinigen durch das Blut Jesu Christi! Hören wir auf sein Wort! Suchen wir ihn im Gebet! Suchen wir die Glaubensgeschwister in der Gemeinschaft! Gehorchen wir seinen Ordnungen! Leider ist der Leib Christi sehr zerrissen. Notwendig ist aber ein Zusammenhalt der Gläubigen im Wesentlichen, nämlich im Bekenntnis zu Jesus Christus als lebendigem Herrn und Heiland. Dann, nur dann können wir Zeugen sein für Ungläubige außerhalb und innerhalb der Kirche. Wir wollen uns daher nicht über Randfragen zerstreiten, sondern im Wesentlichen eins sein — freilich nicht um jeden Preis, sondern in der Wahrheit Christi. Und der Maßstab hierfür, die gemeinsame Basis ist die Heilige Schrift. Gerade weil die Heilige Schrift der Maßstab ist, sollte die Bibelkritik mit den aus ihr sich ergebenden Konsequenzen massiv hinterfragt werden. Eine bibeltreue Ausbildung ist notwendig. Bibeltreue Ausbildungsstätten und Hochschulen sollten endlich offiziell anerkannt und gefördert werden. Ferner ist auch eine Wiedereinführung der Gemeindezucht notwendig (Gemeinde). Diese ist ja heute weithin abgeschafft. Irrlehrer und offen unmoralisch Lebende müssen aus den Gemeinden ausgeschlossen werden können, denn "ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig" (1. Kor. 5,6). Dies gilt selbst dann, wenn es sich bei den Betroffenen um Oberkirchenräte, Kirchenpräsidenten oder Bischöfe handeln sollte. Freilich: wer hat in einem solchen Fall die Autorität und Macht, dies durchzusetzen? Ist es nicht bereits zu spät? Das sind ernste Fragen in einer ernsten Lage. Und schließlich gilt es, gegen den Zeitgeist Widerstand zu leisten, etwa gegen die "Segnung" von Homosexuellen. Wir sollen "Salz und Licht" der Welt sein (Mt. 5,13 ff.) — und nicht Öl im Getriebe, das jedem Trend nachgibt.

3. Warum eine Reformation heute schwierig ist

Wir müssen uns fragen, ob eine Reformation heute nicht schwieriger ist als zur Zeit Luthers, ja ob sie nicht sogar unmöglich geworden ist. Drei Gründe legen diesen Schluss nahe: Erstens sind die kirchlichen Leitungsgremien und kirchlichen und staatlichen Ausbildungsstätten weithin von liberalen Kräften besetzt und unterwandert worden. Ein Machtkartell wurde aufgebaut, das Andersdenkende zunehmend ausschließt. Die aus der neomarxistisch geprägten Studentenrevolution der sechziger Jahre hervorgegangene Feministen- und Homosexuellen-Lobby hat Zugang zu den Entscheidungsgremien erlangt (Neomarxismus, Feminismus, >Homosexualität). Wie in einer Zangenbewegung werden die Gläubigen von oben (Kirchenleitungen) und unten (linke und scheinliberale Basisinitiativen) bedrängt. Momentan ist keine Änderung dieser Verhältnisse abzusehen. Hinzu kommt zweitens, dass der Zeitgeist glaubenstreuen Christen immer heftiger ins Gesicht weht. Der Trend in unserer Gesellschaft ist christus- und christenfeindlich. Das muss uns nicht wundern, befinden wir uns doch nach der biblischen Voraussage zunehmend in der endzeitlichen Situation des Glaubensabfalls und der Gesetzlosigkeit (anomia; Mt. 24,12; 2. Thess. 2,10; Zeichen der Zeit). Die Gebote Gottes, sein Wille und seine Liebe werden mit Füssen getreten. Angesichts dieser Lage möchten wir mit Reinhold Schneider ausrufen: "Allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt Leben abzuringen." Sind wir in die Endzeit eingetreten, dann stellt sich drittens die Frage, ob wir als Gemeinde Jesu noch die Verheißung großer Zahlen haben. Oder befinden wir uns als glaubens- und bibeltreue Christen nicht in der Situation der kleinen Schar, zu der Jesus sagt: "Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben" (Lk. 12,32)? Ist also eine Reformation in großem Rahmen heute noch möglich — oder könnte sie sich nicht in kleinem Rahmen ereignen: in unserem eigenen Herzen, in einzelnen Gruppen und Kreisen, in einzelnen Gemeinden, vielleicht sogar noch in einzelnen Kirchen? Wir dürfen den Herrn bitten, dass er Gnade schenkt, aber wir sollten nicht enttäuscht sein, wenn große Aufbrüche ausbleiben.

4. Wie sich die Gläubigen in dieser Lage verhalten können

Es gilt, weiterhin zu glauben, zu lieben und zu hoffen. Und es gilt, weiterhin zu beten: für eine Umkehr in Kirche und Gesellschaft, für diejenigen, die öffentliche Verantwortung tragen, für die angefochtenen Gemeinden und Einzelnen. Es stimmt nicht, dass es bei Gott nie ein "Zu spät" gebe. Aber wir als Menschen können nicht wissen, wann dieses "Zu spät" erreicht ist. In der Kirche auftreten oder aus ihr austreten? — Diese Frage stellen sich viele Christen. Die Antwort kann nicht pauschal gegeben werden. Sie richtet sich nach der persönlichen Führung des einzelnen durch den Herrn und auch nach der Situation vor Ort. Allerdings sollte jeder, der vor dieser Frage steht, die gesamtkirchliche Lage nicht übersehen — selbst wenn an seinem Ort ein guter, gläubiger Pfarrer Dienst tut. Sicherlich wollen wir solche Pfarrer nicht im Stich lassen. Aber andererseits dürfte eine Grenze erreicht sein, wenn die Kirche als Gesamtkörperschaft Gesetze beschließt und verbindlich macht, die in klarem Widerspruch zum Worte Gottes stehen. So könnte es etwa in puncto "Homosexualität" und "Fundamentalismus" erfolgen. Es drängt sich die Frage auf: Ab welchem Punkt mache ich mich fremder Sünden teilhaftig? Ich erinnere an 1. Kor 6,14-18 und Offb. 18,4 f. Am Ende wird es wohl sein wie am Anfang: Die Gemeinde wird sich in kleinen Zellen im Untergrund versammeln müssen in der Zeit, in welcher sich die Herrschaft des Antichristen immer deutlicher ankündigt.

S. auch: Gemeinde; Ekklesiologie; Reformatorisces Kirchenverständnis; Täuferisches Kirchenverständnis; Urgemeinde.

Lit.: Christen für die Wahrheit (Hg.)., Ruf zur Umkehr. Neue 95 Thesen und die Folgen, 1997; L. Gassmann, Was braucht die Evangelische Kirche?, 1998; ders., Was ist Kirche? Papstkirche, Staatskirche oder Gemeinschaft der Glaubenden? Mit neuen 95 Thesen, 2005.

Lothar Gassmann


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