Humanistische Psychologie

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.

U. Völker gibt folgende Definition: "Die H.P. ist eine intellektuelle und soziale Bewegung innerhalb der Psychologie, die eine Erneuerung des psychologischen Denkens im Geiste des Humanismus und >Existentialismus anstrebt. Sie kann nicht den Anspruch erheben, eine eigenständige Schule zu sein, da es bis heute nicht gelungen ist, eine einheitliche Theorie zu entwickeln" (H.P., 1980, 13). Deshalb wäre es eigentlich richtiger, von den H.P.n (Mehrzahl) oder den Schulen der H.P. zu sprechen. Dennoch gibt es gemeinsame Grundzüge der verschiedenen Schulen bezüglich des Menschenbilds. Zentrales Theorem der H.P. ist die Idee vom Menschen als einem aktiven Gestalter seiner eigenen Existenz. Jeder Mensch sei von Natur aus auf Autonomie angelegt. H. Hagehülsmann gibt zu bedenken: "Die wie Axiome behandelten philosophischen, psychologischen, soziologischen und ethischen Grundannahmen eines Menschenbildes zur Natur, zum Wesen und Ziel des Menschen enthalten immer auch Glaubensmomente und Hoffnungen" (in: H. Petzold, Wege zum Menschen, Bd. 1, 1984, 20). Die Grundannahme vom Menschen, der sich selbst verwirklicht und zugleich in sich die Kraft zur Selbstverwirklichung findet, zieht sich durch sämtliche Schulen der H.P. Innerhalb der psychologischen Wissenschaft sind vor allem Alfred >Adler und C. G. >Jung als Wegbereiter der H.P. zu sehen. Als Hauptvertreter der H.P. gelten Abraham Maslow, Fritz Perls und Carl Rogers.

Ahraham Maslows Wachstums-Theorie beruht auf der Annahme dass der Mensch von Natur aus gut ist und nach Wachstum strebt. Im Menschen ruht ein Kräftepotential, das durch widrige Außeneinflüsse zwar gehemmt, aber niemals ausgelöscht werden kann. Es drängt fortlaufend zur Verwirklichung. Um seelisch gesund zu sein und sich weiterzuentwickeln, muss der Mensch mittels dieses Potentials seine Bedürfnisse befriedigen - und zwar in der folgenden aufsteigenden Rangfolge - wobei sich jeweils nach Erfüllung des niedrigeren Bedürfnisses das nächsthöhere zu Wort meldet: Bedürfnis nach physiologischer Zufriedenstellung, Sicherheit, Zugehörigkeit, Liebe, Selbstachtung, Selbstverwirklichung. Wichtige Eigenschaften des selbstverwirklichten Menschen sind: Unabhängigkeit, Autonomie, Realitätssinn, Akzeptanz, Kreativität, Spontaneität u. a. Intelligenz ist nicht nötig, "Vollkommenheit" und das Einhalten von Vorschriften ist weder erforderlich noch wünschenswert. L. Bischof schreibt: "Viele der von ihm (Maslow) untersuchten Menschen, die er als selbstverwirklicht betrachtete, waren hochmütig, eitel, hatten Vorurteile und besassen sogar eine Art ´schneidender Kälte` (...) Der selbstverwirklichte Mensch ist nicht jemand, der völlig glücklich oder erfolgreich oder übermässig gut angepasst wäre. Er hat lediglich seine eigene Persönlichkeit nach seinem besten Vermögen verwirklicht" (Persönlichkeitstheorien, Bd. 2, 1983, 311).

Auch Fritz Perls betrachtet im Rahmen seiner Gestalttherapie den Menschen als autonomes, aktives Selbst, das nach Ganzheit durch Verwirklichung der in ihm ruhenden Potentiale strebt. Dazu ist es nötig, Blockierungen im Erleben, Wahrnehmen und Handeln aufzulösen. Das Selbst ist als zentrales System zu Beginn des Lebens rudimentär vorhanden, verwirklicht sich aber nur im Prozess, in Kontakten, in der Interaktion mit dem Umfeld (vgl. Kurt >Lewin). Der Leib als Grundlage menschlichen Existierens, als "fleischgewordene persönliche Geschichte" bildet die Basis des Selbst. Durch das Ich als bewusstseinstragende Komponente wird das Selbst erkannt. "Identität entsteht danach durch das Zusammenwirken des Leibes mit dem sozialen und ökologischen Kontext (Lebensraum) im Zeitkontinuum: I = Kt (L, Kn)" (Ch. Bünte-Ludwig, Gestalttherapie, in: Petzold, Wege zum Menschen, Bd. 1, 1984, 255). Durch eine organismische Selbstregulation besitzt jeder Mensch die Möglichkeit und Tendenz zur Selbstverwirklichung mit dem Ziel, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, zu wachsen und sich schöpferisch an die gegebenen Situationen anzupassen.

Schließlich steht und fällt auch Carl Rogers' >Gesprächspsychotherapie mit der Annahme, dass der Mensch von Natur aus gut sei, dass dem Organismus ein Streben nach Wachstum, Reifung und Selbstverwirklichung innewohne, dass dieses Streben "verschüttet" sein könne und wieder "befreit" werden müsse. Durch Einfühlsamkeit (Empathie), Wertschätzung (Akzeptanz) und Echtheit (Authentizität) muss der Therapeut daher ein wachstumsförderndes Klima schaffen, das es dem Klienten ermöglicht, die in ihm selbst verborgenen Kräfte des Guten und der Heilung zur Entfaltung zu bringen. Nicht von außen, sondern von innen (aus dem Inneren des Klienten) kommen die Heilkräfte. Der Berater bzw. Therapeut fungiert als Katalysator zur Freisetzung der verschütteten Energien, aber auf keinen Fall als "Ratgeber", als Verordner von Ratschlägen oder "Wahrheiten". Folgender Kernsatz von Rogers gilt auch für den Umgang mit seinen Klienten: "Erfahrung ist für mich die höchste Autorität (...) Weder die Bibel noch die Propheten, weder Freud noch die Forschung, weder die Offenbarungen Gottes noch des Menschen können Vorrang vor meiner direkten Erfahrung haben." Und er fährt fort: "Es ist meine Erfahrung gewesen, dass Menschen eine im Grunde positive Entwicklungsrichtung haben" (Entwicklung der Persönlichkeit, 1979, 39.42). Gerade die "nichtdirektive, klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie" von Carl Rogers ist es, die einen ungeheuren Einfluss auf die pastoralpsychologisch geprägte "moderne Seelsorgebewegung" ausgeübt hat. Im Blick auf die übrigen von der H.P. geprägten Schulen (Bioenergetik , >Transaktionsanalyse, Familientherapie, Therapeutische Gemeinschaften usw.) genügt der Hinweis, dass sie ebenfalls von diesem Menschenbild geprägt sind: Der Mensch ist von Natur aus gut. Er will und kann sich selbst verwirklichen. Er schöpft Heilung und Heil für sich selbst - aus sich selbst. Dieses Welt- und Menschenbild steht zur Lehre der Bibel in einem unvereinbaren Widerspruch. Zur Beurteilung und Kritik der H.P. und ihrer Anwendung in der Pastoralpsychologie siehe ausführlich den Artikel Seelsorge.

Lit.: L. Gassmann (Hg.), Gefahr für die Seele, 1986

Lothar Gassmann


Weitere Artikel in gedruckter Form finden Sie auf der Website von Dr. Lothar Gassmann (Redakteur).