Heilsgeschichte

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Heilsgeschichte ist "das nach Gottes Heilsplan durch sein Einwirken in Wort und Tat gestaltete, trotz Umwegen und īSprüngen` in sich zusammenhängende und dabei in Kontinuität und Diskontinuität verlaufende Geschehen in der Geschichte, das uns als solches in der biblischen Offenbarung erschlossen ist und als sein Ziel die Verherrlichung Gottes hat" (H. Stadelmann, Glaube und Geschichte, 1986, 37). Ich fasse die wesentlichen Elemente zusammen, die die Heilsgeschichte charakterisieren.

a. Grundlegend ist, dass das heilsgeschichtliche Geschehen nicht planlos verläuft, sondern dass ein Plan dahintersteht, nämlich der Plan Gottes. Und dieser Plan zieht sich zur Verherrlichung Gottes durch die Geschichte hindurch.

b. Ferner handelt es sich um einen Geschehenszusammenhang , und zwar dergestalt, dass Gott durch seine Offenbarung von oben einbricht in die irdisch-sichtbare Realität, dass er Geschichte macht mit dem Menschen, mit seinem Volk, mit seiner Gemeinde. Offenbarungshandeln und Offenbarungsreden Gottes sind hier festzustellen. Es ist wichtig, dass es sich um wirklich geschichtliches Geschehen handelt, keine Übergeschichte, keine abgehobene Sphäre, sondern das Wirken Gottes in der Geschichte.

c. Ferner gibt es das Zusammensein von Kontinuität und Diskontinuität . Es findet sich eine Grundlinie von der Schöpfung bis zur Vollendung des Reiches Gottes. Aber dieser Plan Gottes entfaltet sich nicht in etwa menschlich zu konstruierendem oder vorauszusagendem Ablauf, sondern es gibt Sprünge und Brüche und Überraschungen in dieser Geschichte, weil Gott ein lebendiger und souveräner Herr ist, der nach seinem Plan handelt, nicht nach unseren Vorstellungen.

d. Ein grundlegendes Begriffspaar lautet "Verheißung und Erfüllung" . Gott verheißt Entwicklungen, die eintreten werden, und diese finden ihre Erfüllung zu ihrer Zeit. Beispielsweise der Schritt vom alten zum neuen Bund ist solch ein wichtiges Weiterschreiten von Verheißung zu Erfüllung, aber auch heute erleben wir Erfüllungen, etwa im Blick auf Israel und die Endzeitereignisse.

e. Zu beachten ist auch das Zusammenwirken von Universalgeschichte und Heilsgeschichte Universalgeschichte ist die Weltgeschichte, die - auch ohne zunächst auf geistliche Zusammenhänge zu blicken - sich entfaltet. Heilsgeschichte hingegen ist der Aspekt der Geschichte, der sich speziell auf Gottes Wirken mit seinem Volk und seiner Gemeinde bezieht. Die Frage ist, ob wir Weltgeschichte und Heilsgeschichte trennen können und wie das Verhältnis dieser beiden Grössen zueinander ist. Hier gibt es unterschiedliche Ansätze. Generell kann man zwei Sichtmöglichkeiten unterscheiden: "Heilsgeschichte gleich Weltgeschichte" - oder "Heilsgeschichte in der Weltgeschichte". Also die Frage: Ist Weltgeschichte abhängig oder unabhängig von Gottes Wirken, das in der Heilsgeschichte zum Ausdruck kommt? Ein Lösungsversuch im Anschluss an eine Unterscheidung Martin Luthers ("De servo arbitrio") besagt: Der "deus absconditus", der verborgene Gott, handelt in der Weltgeschichte. Und der "deus re-velatus", der offenbare Gott, handelt in der Heilsgeschichte. In der Weltgeschichte handelt Gott verborgen, und in der Heilsgeschichte offenbart er sich als der Weltenlenker.

Der Begriff "Heilsgeschichte" findet sich in dieser Form zuerst bei Johann Christian Konrad von Hofmann, einem lutherischen Theo-logen in Erlangen im 19. Jahrhundert. Er hat dieses Wort hoffähig gemacht in der Theologie, allerdings verbunden mit mancherlei spekulativen Ansätzen. Hofmann war von G. W. F. Hegels Geschichtsphilosophie wenigstens ein Stück weit beeinflusst, hat aber auch sehr stark die biblischen Berichte als Beschreibungen geschichtlicher Abläufe ernstgenommen. Der Begriff "Heilsgeschichte" findet sich in dieser Form nicht in der Heiligen Schrift selber. Dort begegnen wir dem Begriff "oiko-omia". Dieser Begriff hat zwei Bedeutungen:

In Eph 1,9f. lesen wir:

"Denn Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss (oikonomia), den er zuvor in Christus gefasst hatte, um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre, dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist."

Vom "Ratschluss", vom "Heilsplan" Gottes ist die Rede. Gott hat einen Heilsplan, den er ausführen will. Dieser Plan wird in Eph 1 und 2 entfaltet. Die zweite Bedeutung von "oikonomia" findet sich in Eph 3,2:

"Ihr habt ja gehört, welches Amt (oikonomia) die Gnade Gottes mir für euch gegeben hat."

Für "Amt" steht im Griechischen wieder "oikonomia". Das ist die Verantwortung, die Paulus bekommen hat, einen "Haushalt zu verwalten", und der Inhalt dieses "Haushaltes", dieses "Verwaltungsamtes", ist eben der Heilsplan Gottes, der in Eph 1 genannt wurde. In Eph 3,9 ist von der Verwirklichung dieses Heilsamtes die Rede:

"... wie Gott seinen geheimen Ratschluss ausführt, der von Ewigkeit her verborgen war in ihm, der alles geschaffen hat".

Auch im Kol finden sich Stellen, die vom Geheimnis des Ratschlusses Gottes handeln, welches sich in der Geschichte entfaltet durch das Wirken der Apostel und der von ihnen gegründeten Ekklesia bis heute.

Heilsgeschichte hat es also mit einem Heilsplan zu tun. Sie schreitet fort in der Geschichte. Sie hat ein Endziel, verläuft also nicht zyklisch, sondern teleologisch oder finalistisch, auf ein Ende und Ziel ausgerichtet. Heilsgeschichte umfasst daher den progressiven (fortschreitenden) offenbarten Plan Gottes zum Heil der Menschheit und die Ausführung dieses Plans in der menschlichen Geschichte mit dem Endziel, Gott zu verherrlichen. Und dieser Heilsplan ist soteriologisch, theozentrisch und ge-schichtlich strukturiert: soteriologisch bezüglich des Heils des Menschen und der Menschheit, soweit sie sich retten und rufen lässt; theozentrisch, indem Gott verherrlicht wird als Endziel dieses Heilsplans; und geschichtlich, weil heilsgeschichtliche Ereignisse in der Geschichte geschehen sind. Es gibt keine Trennung zwischen Geschichte und Übergeschichte.

In 1. Mose 12,1-3 finden sich drei andere Aspekte neben "soteriologisch, geschichtlich und theozentrisch", nämlich "persönlich, national und universal": In Vers 1 geht es um Abram, um den persönlichen Aspekt: Abram soll aus seinem Haus gehen in ein Land, das Gott ihm zeigen will. Der Heilsplan Gottes beginnt mit Abram ganz individuell. Dann heißt es: "Ich will dich zum grossen Volk machen." Das ist das Volk Israel, das unmittelbar aus den Lenden Abrahams hervorgeht - der nationale Aspekt. Und schließlich wird gesagt:

"In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden" - der universale Aspekt.

Wir können sagen, dass es in der heils- und endgeschichtlichen Entwicklung vier Linien gibt, die parallel auf das Kommen des Herrn zulaufen: die Israellinie, die Gemeindelinie, die Gerichts- oder Verführungslinie, die Missions- oder Evangelisationslinie.

a. Die Israel-Linie begann mit der Berufung Abrahams (Gen 12,1-3). In ihm erwählte sich Gott Israel als Bundesvolk. Im Lauf der Jahrhunderte war jedoch Israel Gott gegenüber immer wieder ungehorsam und hat schließlich Jesus als seinen Messias abgelehnt. Danach wurde ein Teil Israels verstockt, sein Land wurde verwüstet, sein Tempel wurde 70 n. Chr. zerstört und seine Bewohner wurden für fast zwei Jahrtausende in alle Welt zerstreut. Erst im 20. Jahrhundert ist wie durch ein Wunder die lange vorher (z.B. in Jes 11,10 ff.; 43,5 f.; Hes 36-39; Sach 8,7 f.; Dan 12,7) prophezeite politische Sammlung Israels erfolgt, wobei seine geistliche Erneuerung größtenteils noch aussteht (s.u. zu Röm 11,25). In den Endzeit-Ereignissen wird Israel eine bedeutende Rolle spielen (vgl. z.B. Jes 2,2-4; Sach 12 u.14; Dan 9,27; Mi 4,1-8).

b. Die Gemeinde-Linie bezieht sich nicht auf Israel als Nation, sondern auf die Nichtjuden (aber auch auf einzelne Juden), die Christen wurden. Nachdem das Volk Israel größtenteils Jesus als seinen Messias abgelehnt hatte, ging die Erwählung auch auf die "Heidennationen" über, die daher sogar als das "geistliche Israel" betrachtet werden können (vgl. Röm 2,28 f.; 9,6-8; Phil 3,3; Gal 3,28 f.). In diese Zeit fällt die Weltmission unter allen Völkern dieser Erde. Doch die Heidennationen sind nur "aufgepfropfte Zweige" am "Ölbaum" Israel (Röm 11,17-24). Ihre Zeit wird dann "erfüllt" sein, wenn "Jerusalem nicht mehr von den Heiden zertreten", sondern von den Juden eingenommen sein wird (Lk 21,24). Denn Gott hat sein Volk Israel nicht verstoßen, sondern er wird es vor der Wiederkunft Christi retten und ihm in seinem Heilsplan eine wichtige Rolle zuteilen. Israel wird wohl das abschließende Verbindungsglied zwischen der Missionierung der Welt und der Aufrichtung des messianischen Reiches sein.

c. Die Gerichts-Linie bezieht sich auf die unterschiedlichen Gerichte, Verführungen und Verfolgungen, die der Wiederkunft Christi als letzte Ausreifung des Bösen und "Geburtswehen" der neuen Welt vorausgehen: Kriege, Hungersnöte, Erdbeben, Seuchen, Gesetzlosigkeit, Lieblosigkeit, Christenverfolgungen, das Auftreten falscher Christusse und falscher Propheten u.a. (vgl. Mt 24 parr.; Zeichen der Zeit).

d. Die Missions-Linie bezieht sich auf die Mission von Menschen aus allen Völkern, Stämmen und Sprachen. Nachdem "die Fülle der Heiden" eingegangen ist, wird auch "ganz Israel" gerettet werden (Röm 11,25). Die Verkündigung des Evangeliums von der Rettung des Sünders allein aus Gnaden wird weitergehen, bis Jesus wiederkommt in Herrlichkeit. Die Mission wird durch die Gerichte und Verfolgungen nicht aufgehoben werden, sondern parallel dazu weiterlaufen. Viel Verwirrung ist dadurch entstanden, dass christliche Kreise entweder nur die Gerichte ("Weltuntergang") oder nur die Mission ("weltweite Erweckung") hervorgehoben haben, ohne zu sehen, dass beides parallel bis zur Wiederkunft Jesu ausreifen wird.

S. auch: Eschatologie; Geschichtsverlust; Israel; Gemeinde; Endzeit; Zeichen der Zeit.

Lit.: L. Gassmann, Was kommen wird. Eschatologie im 3. Jahrtausend, 2002; H. Stadelmann (Hg.), Glaube und Geschichte, 1986.

Lothar Gassmann


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