Gemeinschaftsentzug

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.Gemeinschaftsentzug ist eine Maßnahme, die von verschiedenen Sekten, insbesondere aber von der Wachtturm-Gesellschaft und ihren Ortsversammlungen gegenüber abtrünnigen Zeugen Jehovas ergriffen wird.

Es handelt sich allerdings nicht um einen bloßen Ausschluss, sondern um Maßnahmen, die weit darüber hinausgehen. Der Ausgestoßene wird boykottiert, man darf ihm keine Hand mehr reichen, ihn nicht grüßen, nicht mit ihm sprechen, ihn nicht zum Besuch empfangen. Wenn er verheiratet ist und sein Ehepartner weiterhin zu den Zeugen Jehovas geht, werden zwar die äußeren Familienbande aufrechterhalten und die üblichen Haushaltsarbeiten weitergeführt, aber es findet keine geistige Gemeinschaft mehr statt. Mit dem Ausgeschlossenen darf nicht diskutiert werden, denn das könnte ja den Wachtturm-Anhänger "negativ" gegen seine Organisation beeinflussen. Im Wachtturm-Buch "Organisation zum Predigen des Königreiches und zum Jüngermachen" wird deutlich das Verhalten der Wachtturm-Anhänger gegenüber Ausgestoßenen reglementiert:

"In Treue gegenüber Gott sollte niemand in der Versammlung solche Personen grüßen, wenn er sie in der Öffentlichkeit trifft, noch sollte er sie in seinem Haus willkommen heißen. Selbst Blutsverwandte, die mit einem Verwandten, dem die Gemeinschaft entzogen worden ist, nicht in derselben Wohnung leben, meiden, weil sie geistige Verwandtschaftsverhältnisse höher bewerten als buchstäbliche, den Kontakt mit einem solchen Verwandten, dem die Gemeinschaft entzogen worden ist, soweit irgend möglich... Und diejenigen, die mit einer Person, der die Gemeinschaft entzogen worden ist, Glieder derselben Familie sein mögen, hören auf, mit dem Übeltäter, der nicht bereut, geistige Gemeinschaft zu pflegen. Auf diese Weise bekommt der Übeltäter zu spüren, welch ein gewaltiges Unrecht er begangen hat, und gleichzeitig bewahrt Jehova den guten Namen seiner irdischen Organisation und schützt das geistige Wohl seiner Diener auf Erden" (S. 172).

Was Ehepartner oder Kinder betrifft, wird ausgeführt:

"... in all solchen Fällen besteht kein Grund, einem Kind oder Ehepartner, dem die Gemeinschaft entzogen worden ist, zuzuhören, wenn der Betreffende versucht, sich zu rechtfertigen, oder sich bemüht, den Treuen zu seiner Denk- und Handlungsweise zu beeinflussen. Auch sollte man ihn nicht anhören, was Einwände hinsichtlich seiner Behandlung durch das Rechtskomitee betrifft. Wenn er in seinem Fall Berufung einlegen möchte, sollte er zum Komitee gehen und nicht versuchen, dadurch Einspruch zu erheben, dass er seinen Fall mit denen erörtert, die keine Ältesten sind" (S. 173 f.).

Aus biblischer Sicht ist anzumerken, dass es durchaus Stellen gibt, die von einem Ausschluss aus der Gemeinde, ja sogar von einem Verbot des Grüßens sprechen (Mt 18,15-17; 1. Kor 5; 2. Joh 10 f.). Kann sich die Wachtturm-Gesellschaft mit ihren Sanktionen darauf berufen? Keineswegs! Denn erstens werden in diesem Fall die anderen Stellen (z.B. Mt 18,14; 1. Kor 5,5; 1. Tim 2,4) vernachlässigt oder übersehen, die von der zurechtbringenden Liebe Gottes zeugen (eine "Reue" im Sinne der Rückkehr zu ihren Lehren lässt auch die Wachtturm-Gesellschaft offen; vgl. "Organisation...", S. 173). Vor allem aber richten sich Stellen wie 1. Kor 5 und 2. Joh 10 f. gegen Menschen, die falsche Lehren oder Lebenshaltungen in die christliche Gemeinde hineintragen - und das sind aus biblisch-theologischer Sicht gerade solche Sekte n wie die Wachtturm-Gesellschaft und nicht deren Gegner.

S. auch: Zeugen Jehovas; Wachtturm-Gesellschaft; Gemeinde; Gemeindezucht; Sekte.

Lit.: L. Gassmann, Zeugen Jehovas, 2000.

Lothar Gassmann


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