Bultmann, Rudolf

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Bultmann, Rudolf (1884-1976), ev. Theologe, Neutestamentler, sah sich zeitweilig der >Dialektischen Theologie zugehörig, gilt aber eher als Hauptvertreter der >Liberalen Theologie im 20. Jahrhundert. Sein Name steht für das Programm der Entmythologisierung und Existentialen Interpretation der Bibel, das - m.E. zu Recht - vielfältigen Widerstand hervorgerufen hat, etwa in Gestalt der Gründung der Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium" im Jahre 1966.

B. behauptete bereits in seinem Frühwerk "Geschichte der synoptischen Tradition (1921), die Evangelien beruhten auf "Gemeindebildung" und überlieferten nur in den seltensten Fällen authentische Jesusworte. Sie wollten nicht die Worte und Taten des historischen Jesus wiedergeben, sondern zum Christus des Glaubens einladen, wie ihn die nachösterliche Gemeinde verstand. B.s bekanntester Aufsatz (ursprünglich ein Vortrag aus dem Jahre 1941) heißt "Neues Testament und Mythologie". Darin bezeichnet er das Weltbild des Neuen Testaments als ein mythisches Weltbild in drei Stockwerken: in der Mitte die Erde, darüber der Himmel, darunter die Hölle. Das Heilsgeschehen sei ein mythisches (sagenhaftes) Geschehen. Den Ursprung dieser Mythen in der Bibel sieht er in der zeitgenössischen Mythologie, nämlich in der spätjüdischen Apokalyptik und dem gnostischen Erlösermythos vom Himmelsmenschen, der herabsteigt zur Erde und wieder emporsteigt, um sie zur Vergeistigung zu führen (Gnosis; Mythos). Das ist jedoch - so sei kritisch angemerkt - eine falsche Ausgangshypothese. Das Evangelium ist antignostisch! Zum Beispiel ist in 1. Timotheus 6,20 von der "fälschlich so genannten Gnosis (Erkenntnis)" die Rede, vor welcher man "sich hüten" solle. Der Evangelist Johannes benutzt zwar Begriffe, die man vielleicht mit gnostischen Begriffen verwechseln könnte, betont aber ganz deutlich die Fleischwerdung des Logos (Wortes) (Joh 1,14). Neutestamentler wie Otto Michel und Martin Hengel haben nachgewiesen, dass das Neue Testament auf jüdischen Wurzeln beruht und nicht aus heidnischen oder gnostischen Wurzeln gespeist ist.

B. nun nimmt seinen Ausgangspunkt beim Selbstverständnis des "modernen Menschen", der sich als ein durch die Kette von Ursache und Wirkung (Kausalität) determiniertes (begrenztes) Wesen erfährt, das nicht offen ist nach oben hin zu einer Art transzendenter (übernatürlicher) Macht. Und damit hängt auch B.s Wissenschaftsbegriff zusammen - eine Wissenschaft, die von kausalmechanischen Erklärungsprinzipien in einem determinierten Weltbild ausgeht: Die Natur macht keine Sprünge, sie kann nicht mit dem Eingreifen einer höheren Macht rechnen. Dies jedoch ist das naturwissenschaftliche Bild, welches man vor allem im 19. Jahrhundert und auch noch am Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten hat, das aber gerade durch die Relativitätstheorie, die Quantenphysik, die Unschärferelation und ähnliche Entdeckungen immer mehr ins Wanken kam.

"Erledigt" ist für B. der Geister- und Dämonenglaube, sind die Wunder, die Höllen- und Himmelfahrt Jesu Christi und ähnliches. Weil das weder mit dem Selbstverständnis des Menschen vereinbar sei, der sich als ein geschlossenes Wesen sehe, noch mit dem Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaften, die auch ein geschlossenes System seien, deshalb müsse man diese Dinge entmythologisieren (ihres mythischen, sagenhaften Gehaltes entkleiden) und dem Menschen auf seine Existenz zugeschnitten verständlich machen. B. vertritt also von seiner Sicht her ein apologetisches (verteidigendes) Anliegen (Apologetik). Er möchte den Anstoß beseitigen, den der moderne Mensch an dem "mythologischen Weltbild" der Bibel nimmt, wie er es bezeichnet. Die Frage ist nur, ob es sich bei den in der Bibel berichteten Ereignissen wirklich um "Mythen" im klassischen Sinne handelt - oder nur um eine an Mythen erinnernde Redeweise, da menschliche Worte fehlen, welche die Größe der Ereignisse in angemessener Weise auszudrücken vermöchten (s. hierzu: Mythos).

Der Mythos redet nach B. unzureichend von den unverfügbaren Mächten, weil er das Jenseits zum Diesseits objektiviert und vom Unweltlichen und Göttlichen weltlich und menschlich spricht. Bei B. wird der Mythos nicht kosmologisch objektivierend, sondern existential auf die subjektive Existenz des Menschen hin ausgelegt oder befragt. Hier findet jedoch eine anthropologische, ja sogar anthropozentrische Reduktion der biblischen Kosmologie (auf den Menschen zentrierte Verkürzung der Lehre vom Geschaffenen) statt, was B. auch ganz deutlich macht, indem er sagt: nicht kosmologisch, sondern anthropologisch sei die Bibel zu deuten, eben: existential. B. spricht also nicht von einer Erschaffung der Welt mit >Engeln und Dämonen, sondern dies sind für ihn alles Existenzaussagen über den Menschen.

Frühere Versuche einer "Entmythologisierung" (falls man dies überhaupt so nennen kann) kamen eher einer Allegorisierung gleich, so etwa bei Theologen in der Alten Kirche und im Mittelalter (Origenes, Augustin, Thomas von Aquin) mit dem drei- oder vierfachen Schriftsinn (eine wörtlich-historische und zwei bis drei übertragene Deutungen; Spirituelle Interpretation). In der Aufklärungszeit selber hat man die "mythologischen Vorstellungen" der Bibel auf das Ethische gedeutet und reduziert: "Der Sternenhimmel über mir und das moralische Gewissen in mir" blieben für Immanuel Kant als Tatsachen und "Gottesbeweise" übrig. Das war das einzige, was für ihn einen Hinweis auf einen Schöpfer darstellte. Die liberale Theologie im Gefolge der Aufklärungsphilosophie hat die biblischen "mythologischen Aussagen" vollends eliminiert (ausgelöscht) zugunsten sittlicher Grundgedanken. B. nun möchte die mythologischen Aussagen nicht eliminieren, sondern existential interpretieren. Der ungläubige Mensch ist nach B. durch drei Elemente geprägt: a. durch die Welt, verstanden als gottfeindlicher Kosmos; b. durch die Vergänglichkeit und den Tod aufgrund der Sünde durch das Fleisch (griech.: sarx). (Sarx heißt für B., daß man aus der Sphäre des Sichtbaren und Verfügbaren lebt bzw. daran gefesselt ist). c. durch die Doppelung von "Sich-Sorgen" und "Sich-Rühmen" (griech.: merimnan und kauchastai), was Ausdruck der Lebenssicherung ist: dass man dieser Welt verhaftet bleibt, dass man nicht die Entweltlichung erfährt und nicht so lebt, zu haben, als hätte man nicht. Das sind also die Prägungen des ungläubigen Menschen: Er lebt aus dem Verfügbaren. Der gläubige Mensch aber ist bestimmt durch die Sündenvergebung, befreit von der Vergangenheit. Im Glauben kann er sich der Zukunft öffnen (Zukunft wohlbemerkt!) und sich auch an Gott hingeben. Er lebt aus dem Unverfügbaren, in der Entweltlichung und er existiert eschatologisch. Eschatologisch jetzt nicht im chronologisch-linearen Sinne, sondern als Existenzerfahrung hier und jetzt gedacht. Eine Existenz, die ganz aus dem Unverfügbaren, aus "Gott", wie B. auch sagen kann, lebt und sich nicht selber absichern möchte in der Welt (um die Terminologie Martin >Heideggers zu gebrauchen). Das Ziel des Seins ist die Eigentlichkeit, ist der Gedanke: "Werde, der du bist! Entdecke dein eigentliches Wesen!" Diesen Satz gab es bereits vor B.. "Erkenne dich selbst!" stand schon auf griechischen Tempeln. Wenn man noch weiter zurückgeht, zum Hinduismus, findet sich die Identifikation von Atman und Brahman, von individuellem Selbst und Weltseele. Es ist eine Art Fluidum, das den Kosmos durchpulst, eine Urenergie, die auch in uns sei, indem wir die Realität erkennen. Die "Eigentlichkeit" des Menschen zur Entfaltung bringen - das geschieht bei B. durch das "eschatologische Existieren", das "Leben aus der Unverfügbarkeit des Göttlichen". Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings zur Philosophie. Der Philosoph und Freund Bultmanns Martin >Heidegger etwa sieht schon im Wissen um die Eigentlichkeit die Mächtigkeit zum eigentlichen Sein, während das Neue Testament, wie B. es versteht, nur im Christusgeschehen als Offenbarung der Liebe Gottes die Ermöglichung von Glaube, Hingabe und Liebe und die Freiwerdung zum eigentlichen Sein erblickt. Bei der Philosophie reicht also das Wissen schon aus, während für die Theologie das Christusgeschehen als Offenbarung dieser Liebe Gottes wesentlich ist, um das eigentliche Selbst zu erkennen.

Sünde - im B.schen Sinn - ist im Gegensatz hierzu die Eigenmächtigkeit des Menschen, aus sich selbst und aus dem Verfügbaren zu leben, und diese wurde am Kreuz überwunden. Gnade heißt nun, dass man erkennt, man lebt aus dem Unverfügbaren, das man nicht nur als solches durch Erkenntnis wissen kann (wie die Heideggersche Philosophie sagt), sondern durch die Offenbarung der Liebe im Kreuzesgeschehen erfährt. Deshalb ist das Christusgeschehen ein eschatologisches Ereignis in dem Sinne, dass es stets gegenwärtig ist (etwa im Kerygma, in der Predigt) und uns immer lehrt zu leben, als hätten wir nicht, und nicht aus unserem eigentlichen Selbst existieren zu wollen, sondern aus dem Unverfügbaren. Deshalb ist die historische Rede für B. nebensächlich. Das gegenwärtige Ereignis ist zentral. Die Auferstehung etwa ist für ihn nicht bedeutsam im Sinne eines historischen Geschehens oder gar eines "beglaubigenden Mirakels" (Schauwunders), sondern historisch ist nur der Osterglaube der Jünger fassbar. Entscheidend ist das, was in der Verkündigung geschieht: dass wir auch hier uns loslösen von dem Verhaftetsein an das Verfügbarhabenwollen des eigenen Selbst.

Die Unterscheidung B.s zwischen "historisch" und "geschichtlich" (entgegen der gewöhnlichen Terminologie, die hier keinen Unterschied macht) bedarf einer weiteren Klärung. Den Begriff "historisch" verwendet er für eine zeitlich vergangene aufweisbare Tatsächlichkeit oder Faktizität im weltgeschichtlichen Geschehen, für das "Faktum". Das "Geschichtliche" hingegen meint das "Aktum", die gegenwärtige Bedeutsamkeit eines Geschehens. Das Faktum ist für B. unwesentlich oder unerkennbar; entscheidend ist deshalb nur das Aktum, das jetzige Handeln Gottes, verstanden als Vergegenwärtigung des Historischen für die individuelle Existenz. Das Vergangene ist also wesentlich in seiner Gegenwartsbedeutung, nicht in seiner historischen Faktizität.

Auch der Begriff "eschatologisch" bei B. bedarf einer Klärung, da er ebenfalls nicht im traditionellen Sinne von "endgeschichtlich" verwendet wird (Eschatologie). Für B. kennzeichnet "eschatologisch" kein zeitliches Ende im Welt- und Heilsgeschehen ("Endzeit"), also kein historisches Ereignis oder eine Abfolge historischer Ereignisse. Vielmehr ist für B. das eschatologische Ereignis Gegenwart für den Hörer da, wo Christus verkündigt wird. Eschatologie ist für ihn also eine existential-präsentische Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen, die in der Existenz des Hörers gegenwärtig werden). Die eschatologische Existenz des Einzelnen sieht so aus, dass er durch das Kerygma aus der Weltverfallenheit herausgerufen wird und aus dem Unverfügbaren zu leben beginnt.

Welches ist nun für B. das Ereignis, welches den Menschen aus dem Da-Sein ins wirkliche Sein herausreißt? Es ist das Kreuzesereignis im Kerygma, indem Jesus dort das erlebt hat: zu haben, als hätte man nicht, indem er sich ganz hingegeben bzw. losgelassen hat. Er hat das Sorgen hinter sich gelassen und die neue Existenz erfahren und grundgelegt. B. sagt: "An das Kreuz Christi glauben ... heißt, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen." Christus gilt B. praktisch als Stellvertreter für unsere Existenzerfahrung. Hier ergeben sich freilich Anfragen an B.s Christologie, etwa die Frage, ob es sich hier nicht letztlich um eine neue Form des Arianismus handelt. Der Presbyter Arius hatte im 4. Jahrhundert n. Chr. das göttliche Wesen Jesu Christi ausgeblendet und ihn nur noch als bloßes Geschöpf betrachtet. Demgegenüber haben die altkirchlichen Konzilien in Einklang mit dem biblischen Gesamtzeugnis die Einheit Jesu Christi als "wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich" dogmatisch festgelegt (Dreieinigkeit). Dem kritischen Leser wird deutlich, dass bei B. die philosophische Überfremdung zu einer Enthistorisierung und damit zum Verlust des Evangeliums führt. Christus ist bei ihm nur noch Chiffre (Platzhalter) für philosophische Kategorien. Der historische Jesus von Nazareth ist für B. das eschatologische Geschehen Gottes, welches als Ereignis in der Geschichte dieser ein Ende setzt, indem die neue Seinsmöglichkeit eröffnet wird. Die bisherige Geschichte wird überwunden. Das Kerygma erfolgt als Aufruf, die Paradoxie des Kreuzes als des Endes der Welt ("Ende" sachlich, nicht zeitlich verstanden) auch in dem eigenen Leben gelten zu lassen.

Was bedeutet nun das "Wort Gottes" oder das "Kerygma" für B.? Seine Bedeutung hat es fast nur noch in seiner Wirkungsmächtigkeit auf die Existenz hin, nicht bezüglich seiner historischen Seite im Heilsgeschehen - auch hier der Aktualismus: Da, wo das Wort wirkt, wird es wesentlich. B. knüpft philosophisch an Wilhelm Herrmann und Martin >Heidegger an. Hermann hatte die Ansicht vertreten, dass wir nicht - zumindest nicht primär - die historischen Fakten erkennen und für maßgeblich nehmen können, sondern lediglich als allgemeine Hinweise. Deshalb sei das innere Leben Jesu als jetzige gegenwärtige Erfahrung maßgeblich. Heidegger möchte uns dem Geworfensein in das Uneigentliche der Welt entreißen, indem er das eigentliche Sein aufzeigen möchte. Und bei B. erfolgt nun die Befreiung davon durch den Ruf des Kerygmas vom Kreuz, um das alte Sein abzugeben und das neue Sein in der Auferstehung zu erlangen. Kreuz und Auferstehung sind für ihn Existentialbegriffe. So formuliert er in "Neues Testament und Mythologie" den bekannt gewordenen Satz: "Indem Gott Jesus kreuzigen ließ, hat er für uns das Kreuz errichtet: an das Kreuz Christi glauben, heißt nicht, auf einen mythischen Vorgang blicken, der sich außerhalb unser und unserer Welt vollzogen hat, auf ein objektiv anschaubares Ereignis, das Gott als uns zugute geschehen anrechnet; sondern an das Kreuz glauben, heißt, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, heißt, sich mit Christus kreuzigen lassen."

Gegenüber B. hat etwa der Neutestamentler Oscar Cullmann (1902-1999) immer wieder die Geschichtlichkeit des Christusgeschehens betont - "Geschichte" im geläufigen historischen Sinn verstanden. Cullmann möchte - etwa in seinen Werken "Christus und die Zeit" (1946) und "Heil als Geschichte" (1965) - gerade die heilsgeschichtliche Dimension festhalten. Obwohl er selber gemäßigt historisch-kritisch arbeitet, ist es erstaunlich und interessant, dass er die heilsgeschichtliche Abfolge der Endzeitereignisse - wenigstens im Groben - ernst nimmt. Leider ist Cullmann lange Zeit sehr ins Hintertreffen geraten gegenüber B.. Erst langsam beginnt man, seinen Ansatz ganz neu zu entdecken und intensiver zu studieren. Cullmann betrachtet Christus als "die Mitte der Zeit", während bei B. sich letztlich alles in eine Art Zeitlosigkeitsmetaphysik auflöst. Bei Letzterem bleibt - und das auch nur zum Teil - das nackte "Dass" der Offenbarung gegenüber einem inhaltlichen "Wie" übrig. B. könnte sagen: "Jesus ist Gott, weil er mir hilft!" Aber er würde es schwer haben mit dem Satz: "Jesus hilft mir, weil er Gott ist!" B.s Theologie ist eine auf die Bibel angewandte Philosophie - und somit letzten Endes unbiblisch, da sie der Bibel etwas anderes überstülpt als das, was diese selber aufgrund ihres Wortsinns und Kontextes lehrt (Bibel; Hermeneutik; Spirituelle Interpretation; Bibelkritik).

Die Frage bleibt: Vertritt die Bibel wirklich das dreistöckige Weltbild, wie B. behauptet? Nein. Die Behauptung eines dreistöckigen Weltbildes in der Bibel beruht auf einem Missverständnis gegenüber der Heiligen Schrift, etwa Übersetzungsfehlern. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Spr 8,27; Jes 40,22; Hi 22,14; 26,10 u.a. begegnet der Begriff "chug" als Substantiv oder Verbum, welcher eine Kugelschale bzw. die Umgürtung einer Kugel (keiner Scheibe) bezeichnet. Auf solche und ähnliche Beobachtungen hat etwa Karel Claeys in seinem Buch "Die Bibel bestätigt das Weltbild der Naturwissenschaft" hingewiesen. Claeys resümiert das biblische Weltbild wie folgt: "Die Bibel lehrt, daß die Erde ein kugelschalenförmig aufgebauter Globus ist, der im leeren Raum schwebt. Um diese Kugel lagern sich die ebenfalls konzentrischen Schichten der Lufthimmel, deren äußerste Schale die kraftgeladenen Abgetrennten (schechaqim) enthält. Die Erde selbst besteht aus einer reliefreichen, vielgeschichteten Erdkruste, unter der sich die plastisch fließenden Massen der ītehom` befinden" (S. 30). Die Bibel hat nichts gemeinsam mit außerjüdischen Mythologien. Schauen wir nur einmal, wie nüchtern die Erschaffung der Gestirne beschrieben wird in Genesis 1, nämlich als "Lampen", "Leuchtkörper", aber nicht als "Gottheiten" wie etwa in babylonischen Mythen.

Ferner denke ich, dass man sehr wohl den Radioapparat benutzen und an das Eingreifen Gottes denken kann. Warum sollte denn moderne Technik mit der Existenz einer göttlich-geistigen Welt unvereinbar sein? Warum sollte man denn heute nicht mehr mit einem lebendigen Gott und Herrn rechnen können, der in die Welt eingreifen kann? Wirkliche Naturwissenschaftler, die bei ihren Forschungen in die Tiefe gehen, stoßen überall auf Spuren einer übernatürlichen Intelligenz, die sie mit ihrer menschlichen Intelligenz nicht bis ins Letzte erklären können. Viele von ihnen sind so schon zum Glauben an Gott gelangt (Gottesbeweise).

Des Weiteren ist es interessant, daß B.s Entmythologisierung den Weg zur neuen Mythologisierung geöffnet hat. Menschen können gar nicht leben ohne einen gewissen Transzendenzbezug. Die Behauptung, dass der Mensch nur mit Radioapparat, Rasierapparat und den weiteren Errungenschaften der Technik glücklich sei, stellt sich als Utopie heraus. Und diese Remythologisierung (Wiederbelebung der Mythen) erleben wir ja heute etwa im New Age. Es ist also keineswegs überwunden durch die Technik. Im Gegenteil, wir leben sogar schon in der Zeit der Postmoderne, in welcher die Leere der Technik und dieses Lebens immer mehr Menschen bedrückt.

Bultmanns Ansatz kann somit sowohl in theologischer wie auch in philosophischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht als überwunden gelten.

Lit.: R. Bultmann: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 3. Bde., 1933/1952/1959; Neues Testament und Mythologie, in: H. W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos, Bd. 1, 1948; Theologie des Neuen Testaments, 8. Aufl. 1980. - Kritisch: O. Cullmann, Christus und die zeit, 1946; ders., Heil als Geschichte, 1965; W. Künneth, Theologie der Auferstehung, 6. Aufl. 1982; F. Hohmeier, Das Schriftverständnis in der Theologie Rudolf Bultmanns, 1964; L. Gassmann, Kritik der Bibelkritik. Bultmanns Einfluss und seine Widerlegung, 2000.

Lothar Gassmann


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