Autonomie

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.Der aus dem Griechischen kommende Begriff Autonomie (A.) (von autos und nomos), der Selbstgesetzgebung, Selbstbestimmung bedeutet, wird bei Tykidides (5. Jhd. v. Chr.) terminus technicus für die Selbstgesetzgebung einer Stadt unter einer anderen Oberherrschaft. Im 15. Jhd. wird das politisch-rechtliche Verständnis wieder aufgenommen und bedeutet die innere Selbständigkeit eines Volkes oder Stammes, einer Gruppe, was während der Konfessionskämpfe im 16. Jhd. das Recht der Glaubenswahl / Konfessionswahl in engen Grenzen bedeutete (cuius regio eius religio). In seinem politisch-rechtlichen Verständnis ist Autonomie von Souveränität zu unterscheiden und nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Sowohl in Antike und Neuzeit wird der Ausdruck hauptsächlich im Sinne politischer und rechtlicher Selbstbestimmung verwendet. Der Begriff hat jedoch eine viel weitergehende Bedeutung erlangt.

Paulus bringt mit dem Begriff zum Ausdruck, daß die Heiden dafür selbst verantwortlich sind, daß sie das Heil verfehlen (Röm 2,14 f.). Für Luther strebt der Mensch nach A., aber gerade das ist seine eigentliche Verfehlung und erst wenn er sich als theonom (von Gott bestimmt) ausgerichtet versteht, kommt er zu seiner gottgewollten Bestimmung.

"Völlig sich zu demütigen aber vermag der Mensch nicht, bis er weiß, daß sein Heil ganz und gar außerhalb seiner Kräfte, Entschlüsse, Bemühungen, außerhalb seines Willens und seiner Werke gänzlich von dem freien Ermessen, dem Entschluß, Willen und Werk eines anderen, nämlich Gottes allein abhänge" (Luther, De servo arbitrio, WA 18, 672).

R. >Descartes (1596 - 1650) löst die A. von der Theonomie, wobei es dazu bereits in der Renaissancephilosophie Bestrebungen gibt. Der Begriff A. ist auch zu einem geisteswissenschaftlichen geworden. In der Philosophie spielt der Begriff A. eine wichtige Rolle bei I. >Kant (1724 - 1804). Dieser versteht darunter, der Mensch könne sich selbst kraft seiner Vernunft bestimmen. Kant versteht damit den Menschen weder als durch biologische Gesetze bestimmtes Naturwesen, noch als durch Gesellschaft und Umgebung fremdbestimmtes Wesen (Heteronomie), sondern als "Noumenon", als geistbegabtes Wesen. Kant stößt auf viel Unverständnis und Mißverständnis. Im ganzen überwiegt eher eine Ablehnung der A. Der späte >Fichte (1762 - 1814) und der späte >Schelling (1775 - 1854) vertreten die Einheit von A. und Theonomie und nähern sich der Position Luthers an, so daß nur der Mensch, der in Gott lebt, wahre Freiheit haben kann. Heftigen Widerspruch gegen den A.begriff meldet S. >Kierkegaard (1813 - 1855) an. Zunehmenden Einfluß gewinnt A. im Neukantianismus (ab etwa 1860). Für Fr. >Nietzsche (1844 - 1900) bedeutet A. die "große Loslösung" von bisher als heilig Erachtetem. J. P. Sartre versteht in seinem atheistischen >Existentialismus unter A., alles sei erlaubt.

Der Begriff A. hat eine ständige Ausweitung besonders in der >Ethik erfahren und ist auch in Kunst und Naturwissenschaft übernommen. Durch die ständige Ausweitung hat der Begriff A. jegliche Konturen verloren, was die Auseinandersetzung mit dem Phänomen A. erschwert. Vielfach wird heute A. mit absoluter >Emanzipation gleichgesetzt und sind die ursprünglich enthaltenen Tugenden Selbstdisziplin und Verzicht zugunsten lustbetonter Selbstverwirklichung gewichen (Hedonismus). Aber einer philosophisch verstandenen A. scheint diese Tendenz, die vom biblisch-reformatorischen Verständnis abgelehnt werden muß, bereits inhärent zu sein. A. des Menschen anzustreben, widerspricht der biblischen Anthropologie, da gerade sein Streben nach Autonomie seine große Verfehlung ist (>Mensch).

S. auch: Selbstverwirklichung; >Emanzipation; Anarchismus.

Lit.: EKL, 3. Aufl. (Neufassung), Sp. 345 f.; ELThG, Bd. 1, S. 162 - 164; ESL, 7. völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. 1980, Sp. 114; EStL, 2. völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. 1975, Sp. 118 - 120 und Sp. 1140 - 1165 (Art. Kirche und Staat); RGG, 3. Aufl., Bd. 1, Sp. 788 - 792. Darin jeweils weiterführende Literatur. E. Düsing / H. W. Beck, Menschenwürde und Emanzipation. Entfremdung und Konzepte ihrer Aufhebung. Kritischer Traktat (Wort und Wissen Bd. 9), 1981; L. Ihmels, Theonomie und Autonomie, 1909.

Walter Rominger


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